Nacht über der Menschheit
Droge«, flüsterte Cullinan. Warshow hielt die Spritze zögernd an Falks gebräunten Unterarm. Ein fast unhörbares Zischen, dann wurden etwa drei Kubikzentimeter Flüssigkeit durch die Haut ins Blut gepreßt.
Falk stöhnte leise.
»Es dauert ein paar Minuten«, sagte Cullinan.
Die Zeiger der Wanduhr glitten lautlos weiter. Nach einer Weile begannen Falks Augenlider zu flattern, und er sah sich um, ohne seine Umgebung zu erkennen.
»Hallo, Matt. Wir sind hier, um mit Ihnen zu sprechen«, sagte Cullinan. »Oder besser: Wir möchten, daß Sie zu uns sprechen.«
»Ja«, sagte Falk.
»Fangen wir bei Ihrer Mutter an, ja? Erzählen Sie uns, an was Sie sich betreffs Ihrer Mutter erinnern. Erinnern Sie sich ...«
»Meine Mutter?« Die Frage schien Falk zu verwirren, und er schwieg für eine Minute. Dann befeuchtete er seine Lippen. »Was wollen Sie von ihr wissen?«
»Erzählen Sie uns alles«, drängte Cullinan ihn.
Wieder herrschte Schweigen. Warshow ertappte sich dabei, daß er den Atem anhielt.
Schließlich begann Falk zu sprechen.
Wärme. Geborgenheit. Nimm mich auf, Mama.
Ich bin ganz allein, und ich weine. In dem Bein, auf dem ich eingeschlafen bin, pieken Nadeln, und die Nachtluft riecht kalt. Ich bin drei Jahre alt, und ich bin allein.
Nimmst du mich hoch, Mama?
Ich höre Mama die Treppe heraufkommen. Wir haben ein altes Haus mit Stufen, nahe am Raumhafen, wo die großen Schiffe whusch! machen. Jetzt ist der weiche Geruch von Mama da, die mich hält. Mama ist groß und rosa und weich. Vati ist auch rosa, aber er riecht nicht warm. Mit dem Onkel ist es genauso.
Ja, ja, Baby, sagte sie. Sie ist jetzt im Zimmer und drückt mich fest an sich. Es ist ja gut. Ich werde ganz schläfrig. In einer Minute oder so werde ich schlafen. Ich habe meine Mama sehr gerne.
(»Ist das die früheste Erinnerung an Ihre Mutter?« fragte Cullinan.)
(»Nein, ich glaube, es gibt noch eine frühere.«)
Dunkel hier. Dunkel und sehr warm und naß und schön. Ich bewege mich nicht. Ich bin ganz allein hier, und ich weiß nicht, wer ich bin. Es ist, als schwebe ich in einem Ozean. Einem großen Ozean. Die ganze Welt ist ein Ozean.
Es ist sehr schön hier, wirklich schön. Ich weine nicht.
Jetzt durchstechen grelle blaue Nadeln die Dunkelheit um mich herum. Farben ... alle Arten. Rot und Grün und Zitronengelb, und ich bewege mich! Da sind Schmerzen und heftige Stöße, und ... mein Gott! – es wird kalt. Ich keuche! Noch lebe ich, aber ich werde in der Luft draußen ertrinken! Ich bin ...
(»Das reicht«, sagte Cullinan hastig. Zu Warshow gewandt, erklärte er: »Geburtstrauma. Unschön. Kein Grund, es ihn alles nochmal erleben zu lassen.« Warshow zitterte ein wenig und wischte sich die Stirn.)
(»Soll ich weitermachen?« fragte Falk.)
(»Ja, machen Sie weiter.«)
Ich bin vier, und draußen regnet es, plink-plank. Es scheint, als sei die ganze Welt grau geworden. Mama und Vati sind fort, und ich bin wieder allein. Der Onkel ist unten. Ich kenne den Onkel nicht richtig, aber er scheint die ganze Zeit hier zu sein. Mama und Vati sind viel fort. Allein zu sein, das ist wie ein kalter Sturm-Regen. Und es regnet viel hier.
Ich bin in meinem Bett, denke an Mama. Ich will Mama haben. Mama ist mit dem Flugzeug irgendwohin. Wenn ich groß bin, will ich auch mit dem Flugzeug fliegen – irgendwohin, wo es warm und sonnig ist und nicht regnet.
Unten klingelt das Telefon, kling-kling. In meinem Kopf kann ich sehen, wie der Bildschirm hell wird und Farbe annimmt, und ich versuche, mir Muttis Bild in der Mitte des Schirms vorzustellen. Aber ich kann es nicht. Ich höre Onkels Stimme sprechen, leise und murmelnd. Ich beschließe, den Onkel nicht zu mögen, und ich fange an zu weinen.
Onkel ist da und sagt mir, daß ich zu groß bin, um zu weinen. Daß ich nicht mehr weinen sollte. Ich sage ihm, ich will Mama haben.
Onkel macht ein widerliches Gesicht, und ich weine lauter.
Pst, sagt er mir. Still, Matt. Schon gut, Matty-Junge.
Er glättet meine Decken, aber ich ziehe meine Beine an und stoße sie wieder von mir, weil ich weiß, daß ihn das ärgert. Ich ärgere ihn gern, weil er nicht Mama oder Papa ist. Aber diesmal scheint er sich nicht zu ärgern. Er glättet die Decken ein zweites Mal und streichelt mich auf der Stirn. An seiner Hand ist Schweiß, und er beschmiert mich damit.
Ich will zu Mama, sage ich ihm.
Er sieht lange Zeit auf mich herab. Dann sagt er mir, daß Mama nicht zurückkommen wird.
Niemals?
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