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Nacht über der Menschheit

Nacht über der Menschheit

Titel: Nacht über der Menschheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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ihn um. Die Wangen waren noch rot – offensichtlich war er erst vor ein paar Minuten um diese Ecke gekommen und gestorben. Katterson erhob sich und sah sich um. Im Fenster des nächsten Hauses sah er zwei blasse Gesichter, die ihre Nasen an der Scheibe plattdrückten und ihn mit gierigen Blicken beobachteten.
    Er fuhr herum und sah sich plötzlich einem kleinen, dunkelhäutigen Mann auf der anderen Seite der Leiche gegenüber. Sie starrten sich einen Moment an, der kleine Mann und der Riese. Katterson bemerkte das Brennen in den Augen des anderen und seinen entschlossenen Gesichtsausdruck. Zwei weitere Leute tauchten auf, eine zerlumpte Frau und ein Kind von acht oder neun Jahren. Katterson trat näher an die Leiche heran und tat so, als untersuche er sie auf ihre Identität hin, behielt aber die ganze Zeit die Situation im Auge.
    Ein weiterer Mann stieß zu der Gruppe, dann noch einer. Jetzt waren sie fünf und standen alle schweigend im Halbkreis herum. Der erste Mann winkte, und aus dem nächstgelegenen Haus kamen zwei Frauen und noch ein Mann. Katterson runzelte die Stirn – hier würde etwas Unangenehmes geschehen.
    Leichter Schneefall setzte ein. Wie mit glühenden Messern fraß der Hunger in Kattersons Eingeweiden, während er unbehaglich dastand und darauf wartete, was geschah. Wie ein Zaun lag die Leiche zwischen ihm und den anderen.
    Plötzlich kam Leben in die Gruppe. Der kleine dunkle Mann machte eine Geste und griff nach der Leiche – Katterson bückte sich schnell und riß den toten Mann hoch. Dann waren sie plötzlich alle an ihm, schrien und zerrten an der Leiche.
    Der erste Mann griff sich einen Arm der Leiche und begann zu ziehen, eine Frau griff nach Kattersons Haaren. Katterson hob mühsam einen Arm und schlug dann, so kräftig es ihm noch möglich war, um sich. Der kleine Mann wurde von den Füßen gerissen und rollte ein paar Meter über den Boden und blieb als unförmiger Haufen im Schnee liegen.
    Jetzt waren alle da, versuchten, einen Zipfel der Leiche zu erhaschen und Katterson wegzudrängen. Mit seiner einen freien Hand kämpfte er, so gut es ging, benutzte Füße und Schultern, um die anderen abzuschütteln. So schwach und ausgehungert er auch war – seine Größe blieb ein Vorteil für ihn. Seine Faust traf krachend irgend jemandes Unterkiefer; im gleichen Augenblick trat er nach hinten aus und traf Rippenknochen, die zerbrachen.
    »Haut ab!« schrie er. »Er gehört mir! Weg!« Die erste Frau sprang ihn an – er trat nach ihr, und sie rollte durch den Schnee. »Er gehört mir!«
    Die anderen waren durch den Hunger noch mehr geschwächt als er. Nach wenigen Sekunden lagen sie alle im Schnee, abgesehen von dem kleinen Jungen, der entschlossen auf ihn zukam, plötzlich sprang und sich auf seinem Rücken festklammerte. Katterson ignorierte ihn und ging mit ihm und der Leiche ein paar Schritte fort, während die Hitze des Kampfes in ihm langsam abkühlte. Jetzt mußte er die Leiche nur noch in den Norden der Stadt schaffen – es würde ihm ein leichtes sein, sie zu zerlegen, und dann konnten sie tagelang davon leben ...
    Plötzlich wurde ihm bewußt, was passiert war. Er ließ die Leiche fallen, stolperte ein paar Schritte zur Seite und sank in den Schnee. Der Junge glitt von seiner Schulter, und die Menschengruppe bemächtigte sich der Leiche und trug sie triumphierend davon. Katterson blieb allein zurück.
    »Vergebt mir«, murmelte er rauh. Nervös fuhr er sich mit der Zunge über die rauhen Lippen, schüttelte den Kopf. Lange Zeit blieb er dort hocken, unfähig, aufzustehen.
    »Nein – kein Vergeben. Ich kann mich nicht selbst belügen. Ich bin jetzt einer von ihnen.« Er stand auf und starrte auf seine Hände, dann ging er los. Langsam trottete er weiter, während er mit einer Hand in der Tasche das kleine Stück Papier zerknüllte. Er wußte jetzt, daß er verloren hatte.
    Der Schnee auf seinem Haar war gefroren, und er wußte, daß er wie ein Greis aussah. Auch sein Gesicht war weiß. Eine Weile folgte er dem Broadway, bog dann in den Central-Park ein. Vor ihm lag unberührter Schnee – er deckte alles lückenlos zu. Ein langer Winter kündigte sich an.
    »North hatte recht«, sagte er leise zu dem weißen Ozean im Central-Park. Er sah zu den Schutthaufen, die sich unter der Schneedecke verstecken wollten. »Ich halte nicht mehr länger durch.« Er sah auf die Adresse – Malory, 218 West, 42. Straße – und ging weiter, fast gefühllos von der Kälte.
    Seine Augen waren zu

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