Nacht über der Menschheit
hierhin, dorthin, auf und ab zu führen ...«
North brachte Katterson einen Teller mit Nahrung zu seinem Platz. »Ich habe das die ganze Nacht gelesen«, sagte er. »Irgendwie kam ich darauf, es mal wieder zu lesen und habe das die ganze Nacht getan, bis Sie kamen.«
»Dantes Inferno «, sagte Katterson. »Das paßt gut. Irgendwie würde ich es auch gern mal wieder lesen. Ich habe wenig gelesen, wie Sie wissen; Soldaten bekommen keine sonderlich gute Ausbildung.«
»Wann immer Sie etwas lesen wollen, Paul: die Bücher sind hier.« North lächelte. Er deutete auf das Bücherregal, auf dem abgewetzte, zerlesene Bücher standen. »Sehen Sie, Paul: Rabelais, Joyce, Dante, Enright, Voltaire, Äschylos, Homer, Shakespeare. Sie sind alle da, Paul, die wertvollsten Stücke von jedem. Es sind meine alten Freunde – diese Bücher waren oftmals, wenn es nichts anderes gab, mein Frühstück, mein Mittag- und mein Abendessen.«
»Vielleicht sind sie bald das einzige, Hal. Waren Sie in letzter Zeit oft draußen?«
»Nein«, sagte North. »Ich war seit einer Woche nicht mehr draußen. Henriks hat meine Rationen abgeholt und sie mir gebracht und sich Bücher ausgeliehen. Gestern – nein, vorgestern – war er hier, um meinen Band Griechischer Tragödien zu holen. Er schreibt eine neue Oper, die auf einem Stück von Äschylos basiert.«
»Der arme verrückte Henriks«, sagte Katterson. »Wieso schreibt er immer weiter Musik, wenn es keine Orchester, keine Schallplatten, keine Konzerte mehr gibt? Er kann die Sachen, die er schreibt, nicht einmal hören.«
North öffnete ein Fenster, und die Morgenluft wehte herein. »Er hört es, Paul. Er hört die Musik in seinem Kopf, und das befriedigt ihn. Es ist wirklich gleichgültig – er wird nicht lange genug leben, um sie jemals zu hören.«
»Die Rationen sind gestrichen worden«, sagte Katterson.
»Ich weiß.«
»Die Menschen draußen fressen sich gegenseitig auf. Gestern sah ich, wie ein Mann umgebracht wurde, abgeschlachtet wie eine Kuh.«
North schüttelte den Kopf und strich dann eine weiße Locke seines Haares, die verrutscht war, glatt. »So bald schon? Ich hätte gedacht, daß es länger dauert, wenn die Lebensmittel alle sind.«
»Sie sind hungrig, Hal.«
»Ja, sie sind hungrig. Sie aber auch. In ein oder zwei Tagen sind auch meine Vorräte aufgebraucht, und ich werde auch Hunger haben. Aber es bedarf mehr als nur Hunger, um ein Tabu wie das, kein Menschenfleisch zu essen, über Bord zu werfen. Diese Leute da draußen haben die letzten menschlichen Regungen abgelegt – sie haben alle Erniedrigungen durchgemacht, die es gibt, und sie können nicht mehr tiefer sinken. Früher oder später wird es uns auch so gehen, und dann werden wir da draußen auch nach Fleisch jagen.«
»Hal!«
»Erschrecken Sie nicht so, Paul.« North lächelte geduldig. »Warten Sie zwei Tage, bis wir die Einbanddeckel meiner Bücher aufgegessen und unsere Schuhe ausgekaut haben. Bei dem Gedanken dreht sich auch mein Magen um, aber es ist unvermeidlich. Wir sind widerspenstiger als die anderen oder wählerischer bei dem, was wir essen. Aber auch unser Tag wird kommen.«
»Ich glaube das nicht«, sagte Katterson und erhob sich.
»Setzen Sie sich. Sie sind müde und selbst schon ein Skelett. Was ist aus meinem großen, muskulösen Freund Katterson geworden?« North griff nach den Bizeps des großen Mannes. »Haut und Knochen, sonst nichts. Sie brennen aus, Paul, und wenn der Funke schließlich erloschen ist, werden Sie auch aufgeben.«
»Vielleicht haben Sie recht, Hal. Sobald ich mich selbst nicht mehr für einen Menschen halte, sobald ich hungrig und verzweifelt genug bin, werde ich genau wie die anderen dort draußen jagen. Aber ich werde durchhalten, solange es mir möglich ist.«
Er sank wieder zurück auf das Bett und blätterte langsam die vergilbten Seiten des Dante-Bandes um.
Henriks kam am nächsten Tag und brachte das Buch mit den griechischen Stücken zurück. Er bemerkte, daß die Zeit noch nicht reif für Äschylos war. Er borgte sich einen dünnen Band von Ezra Pound aus. North drängte Henriks etwas zu essen auf, der es dankbar annahm. Dann ging er wieder.
Den Tag über kamen noch andere – Komar, Goldmann, de Metz – alles Männer, die, wie Henriks und North, sich noch an die alten Zeiten vor dem Krieg erinnerten. Sie waren bedauernswerte Skelette, aber in jedem von ihnen brannte die Flamme des Wissens. North stellte Katterson vor, und sie musterten den Fremden
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