Nacht über Eden
fragte ich. Meine Lippen waren so trocken, daß ich sie ständig mit der Zunge benetzen mußte.
Statt mir zu antworten, wandte er sich dem jüngeren Arzt zu, der an seiner Seite stand. Er hatte blondes Haar, und eine sehr helle Haut. Seine Wangen waren von winzigen Sommersprossen übersät.
»Mein Assistent, Doktor Carson. Wir werden uns gemeinsam um Sie kümmern.«
Der jüngere Arzt nickte mir zu und vertiefte sich dann in das Krankenblatt, das ihm die Schwester entgegenhielt. »Und dies ist Mrs. Broadfield, Ihre Schwester. Sie wird von jetzt an bei Ihnen bleiben, bis zu dem Tag, an dem Sie wieder gesund genug sind, um allein klar zu kommen.«
»Hallo, Annie«, sagte Mrs. Broadfield, und ein Lächeln erhellte für den Bruchteil einer Sekunde ihr rundes, grobgeschnittenes Gesicht, das von kurzem, schwarzem Haar umrahmt wurde. Ihre Schultern waren so breit wie die eines Mannes.
»Wo ist Drake?« fragte ich und erinnerte mich vage, daß er mir erzählt hatte, er müsse nach Boston zurückkehren.
»Drake?« fragte Dr. Malisoff. »Im Warteraum sind zwei Personen, die Sie besuchen wollen. Die eine ist Ihre Tante Fanny, und ich nehme an, daß der andere ihr Sohn ist?« Er sah zu Mrs. Broadfield hinüber, die eilig nickte. »Ich werde sie gleich hereinholen. Aber lassen Sie mich zunächst erklären, was wir mit Ihnen vorhaben, Annie.
Anscheinend sind Sie, als sich der Wagen Ihres Vaters überschlug, auf irgendeinen harten Gegenstand aufgeschlagen, und der Stoß, den Ihr Rückgrat genau unterhalb der Halswirbel erlitten hat, hat eine Verletzung hervorgerufen, die wir als Trauma bezeichnen. Sie beeinträchtigt Ihre Motorik und ruft die Lähmung Ihres Unterkörpers hervor. Wir wissen bis jetzt nicht genau, an welcher Stelle sich die Verletzung befindet und wie schlimm sie ist, denn in diesem Krankenhaus gibt es nicht die Apparate, die wir zu einer genaueren Diagnose brauchen.
Deshalb werden wir Sie nach Boston fliegen, wo ein Neurologe sie untersuchen wird. Dann können wir eine klare Diagnose und einen entsprechenden Therapieplan für Sie entwickeln.«
»Bis jetzt habe ich keine Schmerzen in den Beinen«, sagte ich.
Er lächelte.
»Nein, solange Sie gelähmt sind, werden Sie auch keine Schmerzen haben. Wenn Sie Schmerz empfinden, so ist das ein Zeichen dafür, daß die Muskeln und die Nerven wieder normal zu funktionieren beginnen. Ich vermute, daß Ihre Beine wieder funktionsfähig werden, sobald wir die Verletzung behandelt haben. Aber das wird auf alle Fälle einige Zeit dauern, und währenddessen brauchen Sie mehr als nur liebevolle Pflege. Sie brauchen eine qualifizierte Therapie.«
Sein freundlicher Ton wirkte beruhigend und ermutigend auf mich, aber ich wünschte mir so sehnlich, daß mein Vater neben mir säße und meine Hand hielte und meine Mutter mich tröstete und mir versicherte, daß ich wieder gesund werden würde.
Noch nie hatte ich mich so schrecklich einsam gefühlt, so allein und verlassen in einer fremden, kalten Welt.
»Also«, fuhr der Doktor fort, ließ meine Hand los und richtete sich wieder auf, »ruhen Sie sich aus, bis wir alle Vorbereitungen getroffen haben. Sie werden mit einem Krankenwagen zum Flugplatz gebracht und von dort mit einem Krankentransport-Flugzeug nach Boston geflogen.« Er lächelte wieder und tätschelte meine Hand. »Inzwischen wird Ihnen Mrs. Broadfield flüssige Nahrung geben.«
»Ich habe keinen Hunger.« Wer konnte in einem solchen Augenblick ans Essen denken? Es war mir völlig gleichgültig, ob ich je wieder essen würde.
»Ich weiß, aber ich möchte trotzdem, daß Sie neben dem, was Sie über die Infusion bekommen, noch etwas zu sich nehmen.«
Er machte eine Pause und lächelte mir wieder zu. »Ich schicke Ihnen jetzt Ihre Familie.«
Er wandte sich um und verließ mit dem jungen Arzt das Zimmer. Mrs. Broadfield öffnete einen kleinen Karton mit Preiselbeersaft und schob einen Strohhalm hinein.
»Trinken Sie das langsam«, befahl sie und verstellte das Kopfteil meines Bettes, so daß mein Körper in eine sitzende Position kam. Ihre kurzen, dicken Finger und ihre großen Handflächen verströmten einen widerwärtigen Geruch von Desinfektionsalkohol. Ihr Gesicht war jetzt so dicht vor meinem, daß ich die feinen schwarzen Härchen sehen konnte, die auf ihrem runden Kinn sprossen. O wenn doch statt dieser abstoßenden Fremden meine wunderschöne Mutter mit ihrem lieben sanften Lächeln bei mir gewesen wäre!
Sie gab mir den Saft in die freie Hand und schob
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