Nacht über Juniper
Es brachte zwar kein Geld in den Münzkasten, wenn die Obdachlosen auf dem Boden schliefen, aber Junes arthritische Knochen bekamen etwas Wärme ab. Während des Winters in Juniper Holz zu finden, das nichts kostete, war noch schwerer, als Arbeit zu finden. Asas Entschlossenheit, anständiger Arbeit aus dem Weg zu gehen, erheiterte Shed.
Das Knistern des Feuers durchbrach die Stille. Shed legte seinen schmierigen Lappen beisei- te. Er stellte sich hinter seine Mutter und streckte die Hände zum Feuer aus. Seine Fingernägel begannen zu schmerzen. Er hatte gar nicht gemerkt, wie kalt ihm war. Ein langer kalter Winter stand bevor. »Asa, hast du eine Holzquelle, an die du regelmäßig herankommst?« Shed konnte sich keinen Brennstoff leisten. Heutzutage wurde Feuerholz von weit flußaufwärts zum Hafen verschifft. Und es war teuer. Früher… »Nein.« Asa starrte in die Flammen. Harziger Duft breitete sich in der Lilie aus. Shed mach- te sich Sorgen um seinen Schornstein. Wieder einmal ein Winter für Kiefernsplitterholz, und er hatte den Schornstein nicht ausfegen lassen. Ein Schornsteinbrand konnte ihn vernichten. Irgend etwas mußte bald passieren. Er stand nicht am Abgrund, er war schon einen Schritt weiter, und die Schulden wuchsen ihm bis über beide Ohren. Das Wasser stand ihm bis zum Hals.
»Shed.«
Er sah über die Tische zu dem einzigen Gast, der wirklich bezahlte. »Raven?« »Ich hätte gerne noch einen.«
Shed hielt Ausschau nach Darling. Sie war nicht zu sehen. Er fluchte leise. Brüllen war sinn- los. Das Mädchen war taubstumm und mußte sich per Zeichensprache verständigen. Ei- gentlich ein Vorteil, hatte er gedacht, als Raven ihm nahegelegt hatte, sie einzustellen. In der Lilie wurden zahllose Geheimnisse im Flüsterton ausgetauscht. Er hatte eigentlich gedacht, daß sich weitere Flüsterer einstellen würden, wenn sie sich ohne Angst vor Lauschern unter- halten konnten.
Shed nickte und schnappte sich Ravens Becher. Er konnte Raven nicht leiden, was teilweise daran lag, daß Raven Asas Spiel so gut beherrschte. Raven hatte keine sichtbaren Ein- kommensquellen, aber er hatte immer Geld. Ein weiterer Grund war, daß Raven jünger, härter und gesünder war als die üblichen Kunden der Lilie. Dadurch stach er hervor. Die Lilie be- fand sich am unteren Ende des Stiefels in Hafennähe. Hier verkehrten die Säufer, die abgeta- kelten Huren, die Süchtigen, die Obdachlosen und das menschliche Treibgut, das in dieses letzte Brackwasser hineintrieb, bevor die Finsternis es verschlang. Shed hegte gelegentlich die quälende Befürchtung, daß seine kostbare Lilie nur der letzte Halt vor dem endgültigen Sturz in den Abgrund war.
Raven gehörte nicht hierher. Er konnte sich Besseres leisten. Shed wünschte, er hätte den Mut, den Mann einfach auf die Straße zu setzen. Er bekam eine Gänsehaut, wenn Raven dort
an seinem Ecktisch saß und seine toten kalten Augen eiserne Nägel des Argwohns in jeden
trieben, der die Kneipe betrat, wenn er endlos seine Fingernägel mit einem rasier- messerscharfen Messer reinigte, wenn er ein paar kalte tonlose Worte an jeden richtete, der auf den Gedanken kam, Darling mit nach oben nehmen zu wollen… Das war etwas, das Shed nicht begriff. Eine wirkliche Verbindung schien es nicht zu geben, und trotzdem behütete Ra- ven das Mädchen, als wäre sie seine jungfräuliche Tochter. Wozu war eine Tavernenschlampe denn sonst noch gut?
Shed erschauerte und verdrängte den Gedanken. Er brauchte Raven. Brauchte jeden zahlen- den Gast, den er kriegen konnte. Sein Leben hing am dünnen Faden der Gebete, die er aus- stieß.
Er brachte den Wein. Raven ließ drei Münzen in seine Hand fallen. Eine war eine Silberleva. »Herr?«
»Besorg anständiges Feuerholz, Shed. Wenn ich erfrieren will, gehe ich nach draußen.« »Ja, Herr!« Shed ging zur Tür und spähte die Gasse hinauf. Lathams Holzlager lag nur einen Straßenzug weit entfernt.
Der Nieselregen war zu einem Eisregen geworden. Die verschlammte Gasse krustete all- mählich zu. »Wird bestimmt noch schneien, bevor es dunkel wird«, sagte er zu niemand Be- stimmtem.
»Rein oder raus«, knurrte Raven. »Verschwende nicht auch noch den letzten Rest Wärme.« Shed glitt hinaus. Hoffentlich konnte er Lathams Höhle erreichen, bevor die Kälte schmerz- haft wurde.
Gestalten tauchten aus dem Eisregen auf. Eine davon war riesig. Beide kamen vorgebeugt näher; Lumpen waren um ihre Hälse gewickelt, damit ihnen das Eis nicht in den Kragen rut-
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