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Nacht unter Tag

Nacht unter Tag

Titel: Nacht unter Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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jedes Haus zu kennen. Damals konnte man noch als Streifenpolizist Karriere machen. Es gab keinen Druck, sich um Beförderungen oder den Aufstieg zur Kripo zu bemühen.« Er rollte mit den Augen. »Da lege ich schon wieder los. Ich habe meiner Frau versprochen, nicht meinen Auftritt als Dixon of Dock Green abzuziehen, aber ich kann’s einfach nicht lassen.«
    Karen lachte. Sie mochte diesen vergnügten kleinen Mann jetzt schon, obwohl ihr klar war, dass es etwas anderes gewesen wäre, damals mit ihm zusammenzuarbeiten. »Ich wette, dass Sie sich an den Fall Catriona Maclennan Grant erinnern«, sagte sie.
    Er nickte, wurde aber plötzlich ernst. »Den werde ich nie vergessen. Ich war an dem Abend dort, das wissen Sie natürlich, deshalb bin ich ja hier. Aber ich träume immer noch davon, manchmal. Von den Schüssen, dem Korditgeruch in der Seeluft, dem Rufen und Schreien. So viele Jahre danach, und was haben wir erreicht? Lady Grant liegt in ihrem Grab neben ihrer Tochter. Jimmy Lawson sitzt den Rest seines Lebens im Gefängnis. Und Brodie Grant ist der Herr des verdammten Universums. Neue Frau, neuer Erbe. Komisch, wie die Dinge sich manchmal entwickeln, was?«
    »Man weiß eben nie«, meinte Karen, der es recht war, sich für jetzt einfach den Klischees anzuschließen. »Können Sie mir von den Ereignissen berichten, während wir zum Lady’s Rock runtergehen?«
    Zuerst kamen sie an einer Häuserzeile vorbei, die der in Jenny Prentice’ Straße in Newton of Wemyss ähnelte, aber jetzt, da es ihre Existenzgrundlage nicht mehr gab, allein und verlassen zurückgeblieben war. Bald erreichten sie den Wald, und der Weg begann anzusteigen, auf der einen Seite verlief eine hüfthohe Steinmauer, und auf der anderen stand dichtes Unterholz. In der Ferne sah sie das Meer glänzen. Als sie auf Strandhöhe hinunterstiegen, schien endlich einmal die Sonne. »Wir hatten hier oben und bei West Wemyss jeweils eine Gruppe Männer stehen«, erzählte Beveridge. »Damals konnte man wegen der Abraumhalde nicht an der Küste entlang in Richtung East Wemyss gehen. Aber als der Küstenweg angelegt wurde, bekamen sie Geld von der EU und transportierten per Lkw den ganzen Abraum vom Uferland weg. Wenn man es jetzt sieht, ahnt man nichts davon.«
    Er hatte recht. Als sie auf Uferhöhe kamen, konnte Karen direkt an East Wemyss vorbei bis Buckhaven mit seinem hohen Vorgebirge sehen. Diese Aussicht hätte es 1985 überhaupt nicht gegeben. Sie wandte sich West Wemyss zu und war überrascht, dass sie den Lady’s Rock von da, wo sie standen, gar nicht erblicken konnte.
    Karen folgte Beveridge auf dem Weg und versuchte sich vorzustellen, wie es an jenem Abend gewesen sein musste. In der Akte stand, dass der Mond zunehmend war. Sie sah die silberne Sichel am Himmel und die stecknadelkopfgroßen Sterne in der eiskalten Nacht vor sich. Der Große Wagen wie ein großer Stieltopf. Gürtel und Dolch des Orion und all die anderen Sternbilder, deren Namen sie nicht kannte. Die Polizisten hielten sich im Wald versteckt und atmeten mit offenen Mündern, damit ihr Atem abkühlte und nicht in sichtbaren Wölkchen austrat. Sie betrachtete die hohen Platanen und fragte sich, wie viel kleiner sie damals gewesen waren. Stricke hingen von den dicken Ästen, an denen manchmal wohl Kinder schaukelten, genau so, wie sie es in ihrer Kindheit getan hatten. Karen erschienen sie in ihrem Zustand angeregter Phantasie wie Galgenstricke, die reglos in der milden Morgenluft auf Verurteilte warteten. Sie fröstelte leicht und beeilte sich, Beveridge einzuholen.
    Er zeigte zu den hohen Klippen hinauf, wo die Baumkronen endeten. »Da oben, das ist Newton. Sie können sehen, wie steil die Klippen sind. Niemand konnte von dort heruntersteigen, ohne dass wir es merkten. Die Einsatzleiter nahmen an, die Kidnapper müssten so oder so diesen Weg entlanggehen, also wiesen sie die meisten Männer an, sich hier zwischen den Bäumen aufzustellen.« Er wandte sich um und zeigte auf etwas, das wie ein riesiger Felsbrocken am Weg aussah. »Und einer war mit einem Gewehr da oben auf dem Lady’s Rock.« Er lachte verächtlich. »Aber er schaute in die falsche Richtung.«
    »Er ist viel kleiner, als ich ihn aus meiner Kindheit in Erinnerung habe.« Als Karen den Felsen jetzt anschaute, fand sie es schwer, zu glauben, dass jemand sich die Mühe gemacht hatte, einem so unbedeutenden Brocken Sandstein einen Namen zu geben. Die Seite unmittelbar am Weg war eine gerade aufsteigende, etwa dreizehn

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