Nacht unter Tag
sie nicht hier finden. Sie ist in der Klinik bei dem Jungen.« Er sah sie mit einem durchdringenden Blick an. »Ich lasse Sie nicht rein und gebe auch meinen Code nicht ein, solange Sie dastehen und zusehen.«
Karen lachte. »Sehr löblich, Sir. Aber wir sind von der Polizei, selbst wenn es wie ein Klischee klingen sollte.«
»Das ist heutzutage keine Garantie für Ehrlichkeit«, entgegnete der alte Mann.
Bestürzt trat Karen zurück. Wo kam man da hin, wenn die Leute meinten, die Polizei würde bei ihnen einbrechen? Oder Schlimmeres? Sie wollte gerade widersprechen, als Phil ihr seine Hand auf den Arm legte. »Lass, bringt nichts«, beschwichtigte er leise. »Wir haben ja, was wir brauchen.«
»Ich kann dir sagen«, schimpfte Karen, als sie außer Hörweite waren. »Sie sitzen da und sehen sich die amerikanischen Krimiserien an, in denen jeder zweite Cop nicht sauber ist, und dann denken sie, wir sind auch so. Es macht mich wütend.«
»Stark, wenn das die Frau sagt, die den Assistant Chief Constable hinter Gitter gebracht hat. Es ist eben nicht nur bei den Amerikanern so«, sagte Phil. »Es gibt überall Leute, die die anderen verarschen. Da holen sich Drehbuchautoren ihre Ideen.«
»Ach, ich weiß. Aber ich finde es einfach beleidigend. In all den Jahren, die ich im Dienst bin, war Lawson der einzige faule Apfel, auf den ich gestoßen bin. Aber mehr brauchen die Leute nicht, um allen Respekt zu verlieren.«
»Du weißt ja, was man sagt: Vertrauen ist wie die Jungfräulichkeit. Man kann beide nur einmal verlieren. Also, bist du bereit für ›guter Bulle, böser Bulle‹?« Sie warteten auf dem Gehweg auf eine Lücke im Verkehrsfluss und gingen dann den Hügel hinunter auf die Klinik zu.
»Ich bin dabei«, sagte Karen.
Überall waren kranke Kinder, es war unmöglich, ihnen aus dem Weg zu gehen, und der Anblick brannte sich ins Gedächtnis ein. Einer der wenigen Vorteile der Kinderlosigkeit, dachte Karen. Man brauchte nicht ohnmächtig zuzusehen, wie das Kind litt.
Die Tür zu Lukes Zimmer stand offen, und Karen konnte nicht umhin, Mutter und Sohn ein paar Augenblicke zu beobachten. Luke sah sehr klein aus, sein Gesicht war blass und verkniffen, hatte aber noch die Anmut eines kleinen Kindes. Misha saß auf dem Bett neben ihm und las ihm aus einem
Käpt’n-Superslip
-Buch vor. Sie sprach die Personen mit verschiedenen Stimmen und machte die Geschichte lebendig für ihren Jungen, der laut über die schlechten Wortspiele und die blöde Handlung lachte.
Schließlich räusperte sich Karen und trat ein. »Hi, Misha.« Sie lächelte dem Jungen zu. »Du musst Luke sein. Mein Name ist Karen. Ich muss kurz mit deiner Mama sprechen. Geht das in Ordnung?«
Luke nickte. »Klar. Mum, kann ich die
Dr.-Who
- DVD gucken, wenn du weggehst?«
»Ich bin gleich wieder da«, versprach Misha und rutschte vom Bett. »Aber, ja, du kannst die DVD laufen lassen.« Sie holte einen DVD -Player, den sie für ihn anschloss.
Karen wartete geduldig und ging dann mit ihr auf den Korridor, wo Phil wartete. »Wir müssen mit Ihnen reden«, erklärte Karen.
»Gut«, meinte Misha. »Am Flur dort vorn ist ein Raum für Eltern.« Sie ging los, ohne eine Reaktion abzuwarten, und sie folgten ihr in ein kleines, farbenfroh gestaltetes Zimmer mit einem Kaffeeautomaten und drei durchgesessenen Sofas. »Hierhin können wir uns flüchten, wenn es zu viel wird.« Sie zeigte auf die Couchen. »Es ist erstaunlich, wo überall man ein Nickerchen machen kann, nachdem man zwölf Stunden bei einem kranken Kind am Bett gesessen hat.«
»Es tut uns leid, zu stören …«
»Sie stören nicht«, unterbrach Misha. »Es ist gut, dass Sie Luke kennengelernt haben. Er ist doch ein Schatz, nicht? Jetzt können Sie bestimmt verstehen, warum ich die Sache weiterverfolgen will, obwohl meine Mutter es nicht mag, dass Sie in der Vergangenheit herumstochern. Ich habe ihr gesagt, dass das am Sonntag nicht in Ordnung war, wie sie sich benommen hat. Sie müssen diese Fragen stellen, wenn Sie meinen Vater finden wollen.«
Karen war genauso erstaunt wie Phil, der ihr einen kurzen überraschten Blick zuwarf. »Wussten Sie, dass Ihre Mutter heute Morgen bei mir war?«, erkundigte sie sich.
Misha runzelte die Stirn. »Ich hatte keine Ahnung. Hat sie Ihnen erzählt, was Sie wissen wollten?«
»Sie wollte, dass wir die Suche nach Ihrem Vater aufgeben. Sie sagte, sie denke nicht, dass er vermisst sei. Dass er Sie beide absichtlich verlassen habe und nicht zurückkommen
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