Nacht unter Tag
wollte.«
»Das ergibt keinen Sinn«, erwiderte Misha. »Obwohl er uns verlassen hat, würde er sich doch nicht von seinem eigenen Enkel abwenden, wenn der Hilfe braucht. Ich habe immer nur gehört, dass mein Dad ein guter Kerl war.«
»Sie sagte, sie versuche, Sie zu schützen«, berichtete Karen. »Sie hätte Angst, dass er Sie ein zweites Mal ablehnen würde, sollten wir ihn tatsächlich finden.«
»Entweder das, oder sie weiß mehr über das Verschwinden Ihres Vaters, als sie zugibt«, warf Phil grimmig ein. »Was Sie wahrscheinlich nicht wissen, ist, dass wir eine Leiche gefunden haben.«
[home]
Campora
B el saß auf ihrer winzigen Terrasse und erfreute sich daran, wie das Licht am Himmel und auf den Hügeln die Farbskala durchlief, während die Sonne langsam und herrlich unterging. Sie aß etwas von dem übriggebliebenen kalten Schweinebraten und den Kartoffeln, die Grazia für sie in ihren Kühlschrank gestellt hatte, und überlegte, was sie als Nächstes unternehmen sollte. Der Auseinandersetzung mit der italienischen Bürokratie sah sie nicht mit Vergnügen entgegen, aber wenn sie Gabriel Porteous finden wollte, führte kein Weg an ihr vorbei. Sie zog Renatas Ausdrucke wieder heraus und fragte sich, ob sie sich die Ähnlichkeit etwa nur einbildete.
Aber wieder fiel sie ihr deutlich auf. Die tiefliegenden Augen, die gekrümmte Schnabelnase, der breite Mund. All dies glich Brodie Grants charakteristischen Zügen. Der Mund war anders, das stimmte. Die Lippen waren voller, schöner geformt. Auf jeden Fall forderten sie mehr zum Küssen heraus, dachte Bel, und tadelte sich sofort wegen dieses Gedankens. Auch das Haar hatte eine andere Farbe. Brodie Grant und auch seine Tochter hatten dunkles, fast schwarzes Haar. Aber der Schopf dieses Jungen war viel heller, selbst wenn man die italienische Sonne mit ihrer bleichenden Wirkung berücksichtigte. Auch war sein Gesicht breiter. Es gab Unterschiede. Man würde Gabriel Porteous nicht mit dem jungen Brodie Grant verwechseln, nicht nach den Fotos zu urteilen, die Bel auf Rotheswell gesehen hatte. Aber man hätte sie für Brüder halten können.
Ihre Gedanken wurden vom Klingeln des Telefons unterbrochen. Mit einem Seufzer nahm sie ab. Es war dumm, dass die Anruferkennung im Ausland nicht immer funktionierte. Man wusste nie, wer am anderen Ende war und ob es sich um eine Person handelte, mit der man lieber nicht sprechen wollte. Und alle Anrufe auf die Voicemail weitergehen zu lassen, damit man sie sortieren konnte, wurde bald entsetzlich teuer. Außerdem war sie teilweise für ihren Neffen verantwortlich, und das hieß, dass sie Anrufe mit unterdrückter Nummer nicht einfach pauschal ignorieren konnte.
»Hallo?«, meldete sie sich vorsichtig.
»Bel? Hier ist Susan Charleson. Passt es im Moment?«
»Ja, kein Problem.«
»Ich habe Ihre E-Mail bekommen. Sir Broderick bat mich, Ihnen zu sagen, dass er über Ihre Fortschritte bis jetzt sehr erfreut ist. Er wollte wissen, ob Sie irgendetwas brauchen, ob wir hier etwas für Sie tun können. Wir können Nachforschungen nach Urkunden anstellen lassen, solche Dinge zum Beispiel.«
Bel verkniff sich ein beschämtes Lachen. In ihrem ganzen Berufsleben hatte sie die Kleinarbeit selbst erledigt oder andere überredet, sie für sie zu machen. Bei diesem Auftrag für Brodie Grant hatte sie nicht einmal daran gedacht, dass sie alle langweiligen Aufgaben auf andere abladen könnte. »Ich habe alles im Griff«, antwortete sie. »Mit einer Sache könnten Sie mir allerdings helfen, nämlich bei den privaten Dingen. Ich denke, in Catrionas Leben muss irgendwann entweder Daniel Porteous oder dieser Matthias aufgetaucht sein, der Deutscher oder vielleicht Brite ist. Eventuell könnte er sogar Schwede sein, da Catriona ja dort studiert hat. Ich muss herausfinden, wann und wo sich das zugetragen hat. Ich weiß nicht, hat sie vielleicht Tagebücher oder ein Adressbuch geführt? Und wenn ich zurückkomme, wäre es wirklich gut, wenn ich ihre Freundinnen ausfindig machen könnte. Frauen, denen sie sich anvertraut hat.«
Susan Charleson stieß ein wohlerzogenes kurzes Lachen aus. »Da werden Sie enttäuscht werden. Sie mögen denken, dass ihr Vater sich nicht in die Karten schauen lässt, aber er ist im Vergleich zu Catriona ein wahrer Exhibitionist der Seele. Sie war die ultimative Einzelgängerin. Ihre Mutter war eigentlich ihre beste Freundin. Sie waren sich sehr nah. Der einzige Mensch, der außer Mary wirklich Cats Gedanken kannte,
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