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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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das Land, die Mutter die Stadt. Der Vater war verschwenderisch, die Mutter so sparsam, dass man es beinahe geizig nennen konnte. Und zwei Weltkriege in einem einzigen Leben, wie konnte man das verkraften? Als die ersten Bomben auf London fielen, hatte Vater gesagt: »Die Deutschen haben wir doch schon vor zwanzig Jahren besiegt! Wir haben mit so viel Blut bezahlt. Sollen wir jetzt schon wieder bluten?«
    Er bremste an der Ampel. Um nicht absteigen zu müssen, lehnte er sich an einen Laternenpfahl an und wartete darauf, dass er Grün bekam. Ein Doppeldeckerbus zog vorüber und stieß eine schwarze Wolke stinkenden Qualms aus. Dass ein Busfahrer sich in eine deutsche Agentin verliebte … Hoffentlich kniff der Kerl nicht. Er war in einem furchtbaren Zustand gewesen, nachdem er ihm gesagt hatte, wer sie in Wirklichkeit war.
    Grün. Eric strampelte los. Vor drei Jahren, als er noch bei der Royal Mail gearbeitet hatte, um sich das Studium zu finanzieren, war er besser in Form gewesen. Den ganzen Tag mit dem Fahrrad unterwegs zu sein, hatte ihm das Gefühl von Freiheit gegeben. An die erbärmlichen zwölf Schilling und das Sechspencestück Wochenlohn dachte er damals nicht. Schlimm war es nur gewesen, Briefe zu Häusern auszutragen, die es gar nicht mehr gab. Oft hatten nach einer nächtlichen Bombardierung ganze Straßenzüge gebrannt, viele Straßen waren durch die Feuerwehr abgesperrt gewesen, und er stand dann mit der Post vor einem qualmenden Haufen Steine, und die Empfänger waren verkohlte Körper.
    Deshalb mache ich das, sagte er sich. Wenn wir Nachtauge fangen, leben Menschen weiter, denen sie den Tod gebracht hätte.
    Von Weitem schon sah er den Sohn der Wirtin am Treffpunkt stehen. Patrick hielt den Rücken ein wenig gekrümmt, als schäme er sich, so groß gewachsen zu sein.
    Eric stieg vom Fahrrad und lehnte es an die Mauer. »Keine Schwierigkeiten mit dem Boss, richtig?«
    »Wie Sie es versprochen haben. Ein Kollege übernimmt die Schicht.« Patrick war nervös, er schwitzte und kaute an der Innenseite seiner Lippen.
    Eric schlug ihm beruhigend auf die Schulter. »Du wirst sehen, es wird ein Spaziergang.«
    »Sie wird mich nicht sehen, oder?«
    »Du schaust einfach oben aus dem Fenster. Das ist alles. Wenn sich Julia dem Falcon nähert, gibst du meinem Kollegen Bescheid. Dann ist dein Part erledigt.«
    Die Fähigkeit, genau zu beobachten, war wie ein Muskel. Sie verkümmerte, wenn man sie nicht benutzte. Übte man sich jeden Tag darin, wurde die Umgebung für einen zum offenen Buch.
    Nachtauge erkannte die Agenten sofort. Ein entspannter Mensch bewegte seine Arme, wenn er redete, selbst in einer überfüllten Kneipe. Die Agenten hielten ihre Arme ruhig, weil sie nicht auffallen wollten – und gerade durch ihre sparsamen Armbewegungen fielen sie auf. Einer von ihnen hatte den Arm sogar in die Hüften gestemmt wie ein Polizist, er merkte es gar nicht, die Haltung war ihm so vertraut. Ein Polizist in Zivil, der an der Theke stand und nach ihr Ausschau hielt.
    Sie nahm ihren Hut ab und legte ihn auf die überfüllte Hutablage neben der Eingangstür. Dabei schob sie das kleine Stück Papier mit der Nachricht, die er an die Abwehr funken sollte, unauffällig unter die Hutkrempe von EIS .
    EIS saß hinten links, wie immer. Und er war Profi genug, nicht zu ihr hinzusehen. Sie ging zur Theke, setzte sich. »Ein Bier bitte«, sagte sie.
    Kommentarlos zapfte der Barkeeper ihr das Gewünschte. Als er ihr das Bierglas hinstellte, fragte er: »Na, wie waren die Gören heute?«
    »Ganz in Ordnung. Ungewaschene kleine Rabauken. Du weißt ja, ich hab sie ins Herz geschlossen.« Sie war sicher, dass er nichts vom Einsatz des MI 5 in seinem Pub wusste, sie kannte ihn seit einem halben Jahr und konnte seine Mimik zuverlässig lesen. »Viel los hier heute, was?«
    »Wenn ich nicht aufpasse, ist das Bier bald alle. Und ich krieg erst Montag Nachschub.«
    Mit den Agenten würde sie fertigwerden, sie brauchte EIS nicht dafür. Besser, er blieb unentdeckt. Nur der schneidige junge Kerl, der sie am Montag in ihrem Versteck aufgestöbert hatte, war gefährlich. Sie musste ihn finden und unschädlich machen, bevor sie untertauchte. Wo steckte er? Sie konnte sein schmales Gesicht nirgendwo sehen. Er war hier, ohne Zweifel. Er hatte diesen Einsatz in Auftrag gegeben.
    Sie kramte die Messingdose aus der Handtasche, klappte sie auf und holte eine Zigarette heraus. Sie klopfte damit auf die Theke und sah gedankenverloren in ihren Bierkrug.

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