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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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schmutzig, abgemagert, mit vor Durst fiebrigen Augen, und dass sie nichts lernen würden außer den wenigen, tausendfach zu wiederholenden Handgriffen am Fabrikfließband.
    Die Wehrmachtssoldaten in ihren feldgrauen Uniformen brüllten die von der Morgensonne geblendeten Frauen an. Sie packten sie an den Armen, stießen sie, bis sie endlich begriffen hatten, dass sie sich in einer Reihe aufzustellen hatten. Das Ganze wäre schneller und ordentlicher vonstattengegangen, wenn sie einen Dolmetscher dabeigehabt hätten. Aber das Militär ging selten mit Verstand an eine Sache heran. Soldaten glaubten, mit Gewaltausübung jedes Problem lösen zu können.
    Der Feldwebel nickte ihm zu. »Suchen Sie sich Ihre aus, Herr Hartmann.«
    Georg trat an die Reihe heran. Sein geübter Lehrerblick offenbarte ihm sofort die Renitenten, Aufmüpfigen. Die Rothaarige dort: Vom Alter her hätte sie in eine seiner Primanerklassen gepasst. Sie wäre eine gewesen, die einen Witz an die Tafel schrieb – in Druckbuchstaben, damit man ihre Schrift nicht erkannte – und sie zuklappte, bevor er ins Klassenzimmer trat. Mitten im Unterricht, wenn er die Tafel aufmachte, las dann jeder »Hartmann und seine Uhr – ein Traumpaar«, und die Schülerinnen lachten. Natürlich fand er die Verantwortliche leicht heraus, er brauchte sich nur umzudrehen und das Gesicht zu suchen, in dem rebellische Zufriedenheit glühte.
    Solche Schülerinnen waren meist hochintelligent, nur ihr Trotz und ihre Neigung zum Widerspruch verdarben ihnen den Weg an die Universität. Sollte er sich einen solchen Fall antun? Er ging weiter. »Sie. Und sie.« Vier weitere nahm er, die kräftig gebaut waren, Bäuerinnen vermutlich. Sie waren eintönige Feldarbeit gewöhnt, das half in der Fabrik. Sie würden sich gut am Fließband machen.
    Soldaten führten die Frauen zur Seite. Er kehrte um und betrachtete noch einmal die Rothaarige in der Reihe. Zuerst hielt sie seinem Blick stand, dann sah sie zu Boden wie die anderen. Etwas Verletzliches hatte in ihrem Blick gelegen.
    Sie ist so jung, dachte er. Wenn ich sie nicht nehme, wird sie bei Meinolf zuschanden gerichtet. Mit halsstarrigen Fremdarbeiterinnen fackelte der Kollege nicht lange, er übergab sie der Gestapo und ließ sie verprügeln, und wenn sie ein weiteres Mal nicht parierten, kamen sie ins Straflager.
    »Du auch«, sagte er und wies auf die Rothaarige. »Das wären meine sieben.«
    »Ich verabschiede mich nur rasch«, murmelte sie in tadellosem Deutsch und kauerte sich vor einen Jungen. Sie redete in fremder Sprache auf ihn ein, Russisch vielleicht, und tätschelte ihm das Gesicht. Plöger von der Lagerwache riss sie hoch. Er holte aus und schlug ihr ins Gesicht, so kräftig, dass sie nach hinten fiel.
    »Das genügt.« Georg eilte zu den Frauen. »Sie wird in der Fabrik gebraucht. Bringt die Frauen zum Fotografen.«
    »Wird kein schönes Foto«, feixte der Unteroffizier. Die Soldaten begafften ihre rot geschwollene Wange und lachten, und Plöger grinste. Er hatte im ersten Kriegsjahr die rechte Hand verloren, eine falsche Hand aus Leder steckte auf dem Stumpf. Womöglich fühlte er sich seitdem nicht mehr recht als Mann – er verhielt sich wie einer, der seine Männlichkeit fortwährend unter Beweis stellen musste.
    »Kommen Sie«, sagte Georg leise und half der Geschlagenen auf.
    Der Schreiber des Soester Arbeitsamts hängte den Frauen nacheinander das Schild mit den beweglichen Ziffern um, bei jeder erhöhte er die Zahl, bevor der Fotograf eine Aufnahme machte. Die Rothaarige kam als Letzte an die Reihe, sie erhielt die Nummer Soest 13 849. Der Geburtstag seiner Schwester, der 13. August, nur die 4 stimmte nicht, Anneliese war 1909 geboren. Hoffentlich bringst du mir nicht das ganze Lager durcheinander, Soest 13 849, dachte er.
    Der Schreiber fragte: »Kak tebja sawut? Jak tebe swate?«
    »Sie können Deutsch mit mir reden.«
    Er sah hoch. »Dein Name?«
    »Nadjeschka Iwanowna Kosak.«
    »Sind deine Eltern Kosaken? Schön, schön. Ich hoffe, dein Vater kämpft tapfer an unserer Seite gegen die Bolschewiken. Du wirst hier deinen Teil dazu beitragen können, dass Europa eine gute neue Ordnung bekommt. Wo stammst du her?«
    »Aus Stepove.«
    Georg sah zu, wie der Schreiber ihr ein Formular hinüberschob. Hoffentlich war sie nicht so dickköpfig, wie man es von Kosaken immer sagte.
    »Den Zeigefinger und den Daumen hier auf das Stempelkissen drücken«, sagte der Schreiber, »und dann dort auf das Formular. Anschließend

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