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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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noch mal, hier auf den Ausweis. Fest zudrücken.«
    Der Fotograf trat an Georg heran. »Warum musste es diesmal im Freien sein? Ich mach die Fotos lieber im Studio.«
    »Ich weiß. Danke, dass Sie heute an den Bahnhof gekommen sind. Die Fabrik macht mir Druck. Sie brauchen dringend Ersatz.«
    »Jemand weggestorben?«
    »Fleckfieber. Und die Gestapo hat einige abgeholt. Die anderen müssen schon Extraschichten fahren wegen meiner Ausfälle.« Er wandte sich an den Mann vom Arbeitsamt. »Haben Sie alles?«
    Er bestätigte.
    »Schicken Sie die Arbeitsausweise nach Neheim. Die Anmeldung der Neuen bei der AOK übernehme ich.«
    Die Wachleute verfrachteten die Frauen in den Lastwagen. »Jetzt lernt ihr faulen Slawen, was Arbeiten heißt! Der Hartmann bringt euch deutschen Fleiß bei.« Plöger und einer der Kollegen kletterten mit hinein und setzten sich auf die Seitenbänke.
    Der Fahrer des Lastwagens fütterte den eisernen Generator zwischen Fahrerhaus und Ladefläche mit kleinen Buchenholzscheiten.
    »Heil Hitler!«, verabschiedete sich der Mann vom Arbeitsamt.
    »Heil Hitler!« Georg stieg auf den Beifahrersitz des Lastwagens und schlug die Tür zu.
    Der Fahrer stieg ebenfalls ein und ließ den Holzvergaser losrattern. »Bringen wir die Gänse ins Gatter«, sagte er.
    Georg hasste diesen Wagen, der wie eine Höllenmaschine klapperte. Seit die Wehrmacht sämtliche Benzinvorräte beschlagnahmt hatte und man beim Amt um jeden Liter betteln musste, bauten sie mehr und mehr Fahrzeuge um. Aber die Holzvergaser rußten und waren anfällig für technische Probleme. Ständig mussten die Züge des Generators gereinigt werden. Das Autofahren war kein Vergnügen mehr, es war schmutzig geworden und laut.
    Sie fuhren über das Bahnhofsgelände, neben einem Netz von Schienen, aufgespreizt zu einem stählernen Fächer, zwanzig Gleise mussten es sein oder dreißig. Etliche führten in die Umladehalle hinein. Die Dampflokomotiven schluckten kein kostbares Erdöl, sie begnügten sich mit Kohle, von der das Großdeutsche Reich raue Mengen besaß. Ein Güterzug, der neben der Halle an einer Rampe stand, wurde gerade beladen. Arbeiter schleppten lange Kisten heran, wohl Gewehre für die Front. Auf einigen Waggons standen Schützenpanzer unter viel zu kleinen Planen.
    Als sie die Landstraße nach Neheim hinausfuhren, kurbelte er das Fenster herunter. Frische Frühlingsluft wehte herein. Kirschbäume blühten schneeweiß am Straßenrand, und über den blauen Himmel zogen mit munterem Pfeifen die Schwalben.
    Vor dem Ortseingang von Günne hielten sie, der Fahrer musste Holz nachlegen, damit der Motor weiterlief. Georg stieg ebenfalls aus. Er sah an der Mauer der Talsperre hinauf. Ein imposanter Wall, der den gekrümmten Rücken zwischen die Berge stemmte und den Möhnesee hielt. Die Mauer war 40 Meter hoch und 650 Meter lang, aus Bruchsteinwerk in den Jahren 1908 bis 1913 errichtet, wobei dreihundert Arbeiter allein mit dem Auspumpen der Baugrube und dem Lehm aufschütten beschäftigt waren. Um bei Hochwasser einen Über lauf zu ermöglichen, waren in der Mauerkrone, unterhalb der sechs Meter breiten Straße, 105 Öffnungen eingelassen. Es war eine der größten Staumauern Europas. An beiden Enden ragte je ein Turm empor. Zu Füßen dieser Sperrmauer duckte sich das Kraftwerk in das Tal. Andernorts hätte es mit seiner Größe jeden Betrachter beeindruckt – hier wirkte es klein vor der gewaltigen steinernen Kulisse. Vor ein paar Wochen war er noch auf dem Möhnesee Schlittschuh gelaufen, mit seinen neuen vernickelten Kondor war er über die schier endlose Fläche aus Eis gejagt. Wie konnte eine Mauer diese Mengen an Wasser halten? Über 130 Millionen Kubikmeter fasste der See, so hieß es.
    Der Fahrer sagte: »Kommt mir immer wie ein monströses Grab vor.«
    »Wie bitte?«
    Er schloss die Luke des Generators und trat neben Georg. »Die Talsperre.«
    »Ein Grab? Für die Fische?«
    »Die leben doch. Nein, ich meine die Häuser. Bei der Talsperre muss ich immer an die Häuser denken, die da unter Wasser stehen, seit dreißig Jahren. Wie sehen die jetzt wohl aus? Sie sind zu jung, aber ich war oft in dem Dorf, damals, bevor sie das Möhnetal geflutet haben. Alles weg, die Mühlen, die Obstgärten, die schönen Fachwerkhäuser. Kettlersteich hieß der Ort. Da schwimmen jetzt Fische durch die Zimmer.«
    Georg stellte sich das Unterwasserdorf vor, von Pflanzen überwuchert. Er malte sich einen Hecht aus, der unter einem Bett hervorlugte. Einen

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