Nachtblau - Tagebuch einer Vampirin
Peter hatte sich einen Anruf abgerungen, um mir mitzuteilen, da ss er von meiner Anwesenheit bei dem Picknick nichts gewusst habe. All die vertrauten Stimmen taten mir gut. Am liebsten hätte ich mich sofort ans Telefon gestürzt und Rebecca angerufen. Aber was um alles in der Welt hätte ich sagen sollen? »Sorry, Leute, ich bin ein Vampir geworden. Macht euch keine Sorgen. Euch tue ich schon nichts?«
Resigniert zog ich mich aus und ging unter die Dusche. Es tat verdammt gut, all den Dreck der letzten Tage abzuwaschen. Als ich mich abgetrocknet und mir frische Sachen angezogen hatte, fühlte ich mich das erste Mal seit vielen Tagen wieder richtig wohl.
Draußen war mittlerweile heller Tag. Ich warf einen prüfenden Blick auf die Straße und zog langsam die Vorhänge zu. Dann überlegte ich systematisch, was ich mitnehmen wollte. Was brauchte man, um sich eine neue, geheime Existenz aufzubauen? Vor allem Geld. Mit meiner Scheckkarte würde ich soviel abheben, wie es ging, dann mit einem Zug in die nächste größere Stadt fahren und mich dort irgendwo verkriechen. Ein Flugzeug würde mich zwar schneller und weiter wegbringen. Aber ich hatte Angst vor den vielen Kontrollen und dem totalen Ausgeliefertsein, wenn ich erst an Bord wäre. Ein Zug dagegen hielt ständig. Ich würde immer verschwinden können, wenn Gefahr drohte. Entschlossen warf ich meinen Pass, meine Lieblingskleidungsstücke und Toilettenartikel auf einen Haufen und verstaute dann alles in einer Reisetasche. Endlich fand ich auch meine Sonnenbrille, die ich fortan so dringend brauchen würde. Als alles gepackt war, legte ich mich auf mein Bett und schlief sofort erschöpft ein.
Der Traum kam wie eine Nebelwand. Ich sah mich in gebückter Haltung an einem großen, steinernen Tisch sitzen. Flackerndes Kerzenlicht warf unheimliche Schatten an die uralten Mauern eines gewaltigen Gewölbes. Ich bewegte mich nicht. Plötzlich betraten einige Frauen in schwarzen Gewändern mit langsamen Schritten den Raum. Kapuzen bedeckten ihre Gesichter. Wortlos setzten sie sich zu mir an den Tisch und warteten. Ich konnte ihre Gesichter nicht erkennen. Minutenlang sprach niemand. Ein Kratzen ließ mich zusammenzucken. Ein Geräusch, das Klauen erzeugen, wenn sie auf Stein treffen. Etwas war lautlos aus der Dunkelheit gekommen und hinter mich getreten. Genü sslich zog das Wesen seine langen, messerscharfen Fingernägel über die Wand hinter mir. Ein Luftzug ließ die Kerzen flackern, als es sich eine Sekunde später am zehn Meter entfernten Kopfende des Tisches niederließ. Sie war es! Die Frau, die mich geschaffen hatte. Sie war groß, schlank, und ihr bleiches Gesicht wirkte wie mit Pergament bespannt. Sie trug ein einfaches, schwarzes Gewand und bis auf einen roten Siegelring keinen Schmuck. Den Ring zierte ein großes V. Die Frau schien in sich hineinzuhorchen und hatte die Augen geschlossen. Im Traum schwebte ich immer näher an dieses sonderbare, fremdartige Gesicht heran. Immer näher. Und als ich direkt vor ihm war, schlug die Frau die Augen auf und öffnete ihren grauenhaften Mund.
Ich erwachte in absoluter Finsternis. Der Wecker neben meinem Bett zeigte 23 Uhr. Ich hatte den gesamten Tag in meiner Wohnung verschlafen. Was für ein Leichtsinn! Jederzeit hätten die Polizei, meine Eltern oder irgendwer auf der Suche nach mir hier auftauchen können. Ich machte mich etwas frisch, zog meinen Mantel an, griff mir meine Tasche und ging zur Wohnungstür. Trotz der Dunkelheit konnte ich im Flur gut sehen. An den Wänden hingen Fotos, die ich besonders liebte. Ich als Kind, mit meinen Klassenkameraden auf der Abschlu ssfeier, mit Rebecca im Urlaub, meine Eltern auf der Terrasse mit ihrem hässlichen kleinen Dackel. Normalität. Mein Leben.
Und was wäre, wenn ich versuchte, irgendwie in diesem Leben weiterzumachen? Wenn ich es ihnen erklären würde? Tränen schossen mir in die Augen. Ich fühlte mich auf einmal vollkommen hilflos und verlassen. Es gab ein paar Leute, die mich sehr liebten. Sie würden das mit mir durchstehen. Ich ließ die Tasche fallen und weinte hemmungslos.
Im Flur hing ein Spiegel. Ich stieß einen erstickten Schrei aus, als ich sah, dass keine Tränen, sondern Blutstropfen aus meinen Augen rannen und mit einem hässlichen Geräusch auf dem Parkettfußboden landeten.
Mit einem Mal war alle Sentimentalität verflogen. Ich sah ein, wie unmöglich es war, als Monster in die Gemeinschaft der Menschen zurückkehren zu wollen. Ich trocknete meine
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