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Nachtblau - Tagebuch einer Vampirin

Nachtblau - Tagebuch einer Vampirin

Titel: Nachtblau - Tagebuch einer Vampirin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kester Schlenz
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blutigen Tränen, nahm meine Tasche, horchte kurz, ob der Hausflur sicher war, und verließ mein Leben.

6 - DIE STADT
    Nur eine Stunde später saß ich allein in einem dunklen Zugabteil und entfernte mich mit jeder Sekunde weiter von meiner alten menschlichen Existenz. Es schmerzte mich, dass ich von niemandem hatte Abschied nehmen können. Jetzt würden meine Eltern und meine Freunde mit dem Gedanken leben müssen, ich sei womöglich umgebracht und irgendwo verscharrt worden. »Immer noch besser als die Wahrheit«, dachte ich. Aber trotz meiner melancholischen Gedanken fühlte ich eine seltsame Ruhe, die sich nach und nach in mir aufbaute. Es war, als ob ich mich wie eine Schlange gehäutet hätte und nun frisch und jungfräulich auf das Neue, Ungewisse zuging.
    Dann, nach einem kurzen Zwischenhalt, wurde auf einmal die Tür aufgerissen. Eine Gruppe junger Leute stand auf dem Gang. Angetrunken, fröhlich und nicht besonders rücksichtsvoll. Ein junges Mädchen hielt die Tür auf und rief: »Hier ist alles frei, Leute.«
    Schon waren sie drin und ließen sich kichernd auf die Sitze fallen. Sie blickten mich frech und provozierend an. Ihre Botschaft war klar. Wir sind jung, du bist jung – stell dich bloß nicht so an. Für einen kurzen Moment fühlte ich Sympathie. Sie erinnerten mich an meine Zeit mit Rebecca und den anderen. Wir hatten uns auf unseren Reisen genauso benommen. Doch ich gehörte nicht mehr dazu. Noch vor ein paar Tagen war ich wie sie. Jetzt trennten mich Jahrhunderte von ihnen.
    Ich sagte nichts.
    »Was ist denn mit der los?« fragte einer der jungen Männer und stieß einem der Mädchen mit dem Ellenbogen in die Seite.
    »Sag der mal von Frau zu Frau, dass wir in Ordnung sind.«
    Ich schwieg weiter. Langsam wurde ich ärgerlich. Statt mich einfach in Ruhe zu lassen, zwangen sie mich, irgendwann auf ihr albernes Getue zu reagieren. Ich spürte kurz, aber heftig das Bedürfnis, sie alle auf der Stelle umzubringen. Plötzlich sah ich das Abteil vor meinem inneren Auge – blutbespritzt, voller Leichen in grotesken Haltungen auf dem Boden. Meine Zunge fuhr kurz über einen meiner Reißzähne. Wieder einmal empfand ich meine ungeheure Macht und erschauerte. Doch statt sie zu töten, fixierte ich wortlos einen nach dem anderen. Jeder wich meinem Blick aus. Die Unterhaltung erstarb.
    »Ich fühl mich nicht gut«, sagte plötzlich eines der Mädchen.
    »Ich geh lieber mal kurz raus.« Ein Junge, offensichtlich ihr Freund, ging sofort hinterher. Das war das Zeichen für die anderen. Mit bleichen Gesichtern und ängstlichen Blicken in meine Richtung verließ einer nach dem anderen das Abteil. Ich hatte sie vertrieben, ohne auch nur einen Arm zu heben oder etwas zu sagen. Eine weitere meiner übernatürlichen Fähigkeiten – ich konnte offenbar eine negative Aura um mich herum erzeugen, die Menschen in Unruhe und Angst versetzte.
    Nachdem die Gruppe der Jugendlichen sich schließlich irgendwo ein anderes Abteil gesucht hatte, kehrte wieder Ruhe ein. Nur das gleichmäßige Rattern der Räder war zu hören. Ich beruhigte mich und konzentrierte mich auf die vor mir liegenden Probleme. Wo sollte ich hin, wenn ich die nächste Stadt erreicht hatte? Wann würde der Hunger wiederkommen? Hatte ich überhaupt eine Chance zu überleben? Und wenn ich genau das nicht wollte – wie könnte ich meinem unnatürlichen Leben ein Ende bereiten?
    Die kreischenden Bremsen des Zuges rissen mich aus meinen Gedanken. Die Stadt – eine gigantische Metropole mit mehreren Millionen Einwohnern – war erreicht. »Zeit zum Aussteigen, Ludmilla«, sagte ich mir und schlich mich hinaus in den Gang. Es war früh am Morgen. Noch nicht hell, aber das diffuse Zwielicht des nahenden Tages zeichnete sich bereits am Horizont ab. Ich packte meinen Koffer und huschte hinaus auf den Bahnsteig.
    Der Bahnhof hatte die Dimensionen eines Flughafens. Trotz der frühen Morgenstunden waren noch – oder bereits wieder – unzählige Menschen unterwegs. Mit gesenktem Kopf, meine Tasche dicht an den Körper gepresst, ging ich raschen Schrittes in Richtung Ausgang. Ich muste dringend einen ruhigen und dunklen Platz finden, um den Tag zu überstehen. Das Tageslicht brachte mich zwar weiterhin nicht um, war mir aber unangenehm und verunsicherte mich. Als ich das Gebäude verließ, fiel mein Blick sofort auf ein schäbiges kleines Hotel, gleich gegenüber. Wie erwartet, stellte der verschlafene Nachtportier keine Fragen und verlangte keinerlei Dokumente,

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