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Nachtblau - Tagebuch einer Vampirin

Nachtblau - Tagebuch einer Vampirin

Titel: Nachtblau - Tagebuch einer Vampirin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kester Schlenz
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als ich ihm irgend etwas von einem verpassten Zug erzählte und im voraus bar bezahlte. Ich bekam ein enges, dunkles Zimmer direkt unter dem Dach. Die Sonne kroch nun endgültig als roter Feuerball am Horizont hervor und tauchte das riesige Vergnügungsviertel rund um den Bahnhof in ein weiches, warmes Licht. Dennoch blinkten die Leuchtreklamen mit ihren großspurigen Anmach-Sprüchen trotzig in den nahenden Morgen hinein, weiterhin auf Kundenfang. Bevor ich mich schließlich auf das viel zu weiche Bett fallen ließ und in einen – diesmal traumlosen – Schlaf fiel, fühlte ich mich so einsam wie noch nie zuvor in meinem Leben.
    Als der Tag sich neigte, packte ich meine Sachen und verließ das Hotel. Draußen dämmerte es bereits. Musik dröhnte aus den Bars, Sexshops und Spielhallen. Vierschrötige Männer standen vor irgendwelchen Etablissements und versuchten, die vorwiegend männlichen Kunden zum Eintritt zu bewegen. Ihre Wortwahl war drastisch.
    »Hier drinnen wird gefickt!« rief einer und hielt einen jungen Soldaten am Arm fest. »Kannst auch mitmachen.« Der Soldat lachte, besprach sich mit seinen Kameraden, und die Gruppe verschwand geschlossen hinter einem roten Vorhang. Ich konnte einen kurzen Blick auf eine Bühne werfen, auf der sich gerade eine Frau mit einer Kerze befriedigte. Die Soldaten johlten.
    Meine Stimmung war auf dem Tiefpunkt. Ich hatte immer Spaß am Sex gehabt und glaubte, tolerant gewesen zu sein, aber das hier stieß mich in seiner kalten Brutalität nur ab. Doch je tiefer ich in das Gewirr von Gassen und Seitenstraßen eindrang, desto schlimmer und billiger wurde es. Die Prostituierten wurden älter und verbrauchter, die Freier unsauberer und betrunkener.
    Ziellos rannte ich weiter. Trotz der Sonnenbrille, die ich trug, konnte ich all den Dreck um mich herum deutlich erkennen. Plötzlich registrierte ich eine Bewegung neben mir in einem Hauseingang. Ein großer Mann mit kahl geschorenem Kopf war blitzschnell auf den Gehweg gesprungen und stellte sich mir in den Weg. Er taxierte mich kurz und griff mir unvermittelt zwischen die Beine.
    »Na, du süßes Ding. Willst du mal ’n richtig dicken Schwanz zwischen die Beine kriegen?«
    Ich handelte, ohne nachzudenken. Meine linke Faust schoss hoch. Ich hörte ein trockenes Knacken, und der Mann brach wie vom Blitz gefällt zusammen. Blut rann aus seiner Nase und seinem Mund. Blut! Als ich es sah, traf mich der Hunger wie ein Schlag in die Magengrube. Er war diesmal plötzlich und ohne Vorwarnung gekommen. Ohne weiter darüber nachzudenken, dass ich mich mitten auf der Straße befand, zog ich den Bewusstlosen zu mir heran, öffnete meinen Mund und schlug meine Fangzähne in seine Kehle. Haut platzte auf, Knorpel brachen. Der Mann starb, ohne einen Laut von sich zu geben, in meinen Armen. Er gab mir sein Blut mit geradezu sinnlicher Bereitschaft. Wieder erschauerte ich unter der gewaltigen Lust des Augenblicks. Ich sah, spürte, roch und hörte alles noch deutlicher und exakter als vorher. Sanft ließ ich mein Opfer schließlich auf den Asphalt gleiten und spürte, wie sich die Kraft in mir weiter ausbreitete. Jeder Teil meines Körpers vibrierte vor Lust und purer Energie.
    Ich weiß nicht, wie lange ich so dastand. Schließlich hörte ich Schritte. Passanten näherten sich.
    »Ist etwas passiert?« fragte eine Stimme dicht hinter mir.
    Ich fuhr zusammen und rannte mit klopfendem Herzen los. Die Geräusche um mich herum wurden auf einmal dumpf. Meine Haare flatterten in einem plötzlichen, scharfen Wind, und ich registrierte, da ss ich mich, ohne es direkt zu wollen, wieder mit übernatürlicher Geschwindigkeit bewegte. In Sekunden war ich außer Gefahr.
    Ich ging mit normaler Geschwindigkeit weiter. Langsam wich die durch das frische Blut hervorgerufene Euphorie. Und dann kamen die Gewissensbisse. Sicher, der Mann hatte mich angegriffen. Aber ich hatte ihn nicht nur getötet, sondern ihn wie ein Stück Vieh benutzt, um meinen Hunger zu stillen.
    Schließlich stand ich weit vom Ort des grausigen Geschehens in einer dunklen Straßenecke und ekelte mich vor mir selbst. Hatte ich mich nicht eben noch vom derben Sex in diesem gigantischen Moloch abgestoßen gefühlt? Abgestoßen von all diesem triebhaften, groben, entmenschten Verhalten? Und ich? Ich war nicht besser als die Soldaten, Spießer, verstohlenen Ehemänner und anderen Freier, die sich hier schnelle Befriedigung holten. Ich war wie sie. Plötzlich ließ mich ein Geräusch aufschrecken.

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