Nachtblau - Tagebuch einer Vampirin
und wird fürs erste oben in einem der Zimmer wohnen. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Grant hörte auf zu lächeln.
Carl nickte und ging ohne ein weiteres Wort zurück an die Bar. »Du musst entschuldigen«, sagte Grant. »Carl ist ein guter Mann, aber manchmal ziemlich übellaunig. Und eigentlich ist er fürs Personal verantwortlich. Na ja, der wird schon noch umgänglicher.«
Dann nahm er meinen Arm und zog mich zu einer Treppe, die in den zweiten Stock hinaufführte. Von unten hörte ich noch eine Lautsprecheransage: »Freuen Sie sich jetzt auf Gilda und ihr ganz besonderes Programm.«
Ich blickte Grant fragend an. »Besonderes Programm?«
Er lächelte und sagte: »Die Show kannst du dir nachher ansehen. Lohnt sich.«
Oben befanden sich sechs kleine Zimmer mit Kochnische und Bad. »Hier wohnt ein Teil des Personals. Das Zimmer hier ganz hinten ist frei«, sagte Grant und öffnete eine Tür.
»La ss bitte das Licht aus, ich habe Kopfschmerzen«, beeilte ich mich zu sagen. Schweigend standen wir uns im Dunklen gegenüber.
»Ich verdanke dir einiges, Ludmilla«, sagte Grant schließlich. »Nicht jeder hätte sich in dieser Gegend mit zwei Spikes angelegt, um einem Unbekannten zu helfen. Ich stelle dir keine Fragen. Ich will auch gar nicht wissen, was du angestellt hast.«
Er zögerte kurz. Dann sprach er weiter. »Du kannst hier bleiben, solange du willst. Aber vor was auch immer du fliehst, denke daran: Dieser Laden ist sauber und soll es bleiben. Keine Probleme. Das ist meine einzige Bedingung: Du darfst mir keine Probleme bereiten.«
Dann ging er und schlo ss die Tür.
Ich ließ mich mit einem Seufzer aufs Bett fallen. Was für eine Ironie! Ich, die untote Mörderin hatte eine Zuflucht gefunden, weil ich einem Menschen das Leben gerettet hatte. Ich hatte wirklich verdammtes Glück gehabt. Das Zimmer gefiel mir. Grant war in Ordnung, und sein Club bot die einmalige Chance, nachts zu arbeiten und tagsüber zu schlafen. Außerdem war das Bahnhofsviertel mit seinen eigenen Gesetzen und schrillen Bewohnern genau die richtige Tarnung für mich. Hier würde ich, so hoffte ich, mit meinem etwas sonderbaren Aussehen nicht weiter auffallen. Tätowierungen, plastisch-chirurgische Manipulationen oder farbige Kontaktlinsen waren hier keine Seltenheit. Mit etwas Glück ging ich als eine weitere Exzentrikerin durch. Zumindest, solange ich es schaffte, meinen Hunger einigermaßen unter Kontrolle zu halten.
Ich stand auf, ging ins Badezimmer und machte Licht. Erst jetzt erkannte ich im Spiegel das unheilvolle Strahlen meiner untoten Augen. Ein grauenvoller Nachhall meiner letzten erfolgreichen Jagd. Ich wandte mich entsetzt ab. Und doch spürte ich noch etwas. Ein sonderbares Gefühl von Stolz und Befriedigung. Es war nicht zu glauben – etwas in mir fing an, dieses furchtbare Wesen, das ich jetzt war, dieses Monster in Frauengestalt, zu mögen. Auf der Spiegelablage stand ein Zahnputzbecher aus Porzellan. Ich nahm ihn in die Hand und drückte zu. Er zerplatzte, ohne dass ich mich sonderlich angestrengt hatte. Eine Scherbe schnitt mir tief in die rechte Hand. Ich spürte nur einen leichten Schmerz und sah fasziniert zu, wie das Blut langsam ins weiße Waschbecken tropfte. Blut, meine Nahrung, mein Fluch. Ich musste lächeln und fühlte, wie meine kleinen, spitzen Reißzähne fast zärtlich meine Lippen berührten. Ein Schauer durchfuhr mich. Die Wunde schloss sich nach wenigen Sekunden und verschorfte.
Ich verließ das Badezimmer und ging ruhelos im Zimmer auf und ab. Was geschah nur mit mir? Ich spürte deutlich, wie ich mir selbst fremd wurde. Einerseits empfand ich immer noch wie ein Mensch, andererseits merkte ich, wie etwas anderes in mir immer stärker wurde. Eine Macht, deren archaische Urgewalt mich ängstigte u nd zugleich faszinierte. Ich wusste, ich konnte nur überleben, wenn ich es schaffte, diese Macht zu kontrollieren. Der Mensch in mir musste weiterleben. Aber was für ein Mensch war das? Ich würde nie Kinder bekommen, wie ich es mir schon als kleines Mädchen gewünscht hatte. Ich würde niemals heiraten. Niemals mehr einen Mann lieben. Niemals mehr reisen. Als Studentin wollte ich all die großen, mythischen Orte der Archäologie besuchen: das Grab des Tut-ench-Amun, die sagenumwobene Terrakotta-Armee in China, das Tal der Pyramiden und die Höhlen der Steinzeitmenschen von Lascaux. Doch jetzt war ich selber ein fleischgewordener Mythos, Angehörige einer wahrscheinlich uralten, fremdartigen
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