Gößling, Andreas
1
Nach langem Hin und Her hatte sich Carmen für ihre neue schwarze Jeans und ihr Lieblings-T-Shirt entschieden: weiß mit rotem Rand.
Sie rannte ins Bad, suchte ihre Haarbürste und fand sie unter dem Duschhandtuch am Boden. Mit wilden Strichen fuhr sie durch ihr schulterlanges Haar. »Kastanienbraun«, hatte Nico gesagt und ihr eine Strähne hinters Ohr gestrichen, »genau der gleiche Ton wie deine Augen.« Was überhaupt nicht stimmte – ihre Augen waren viel dunkler, fast schwarz. Aber sie hatte keinen Laut herausgebracht.
Nur den Mund aufgemacht und nach Luft geschnappt, während es in ihrem Bauch wie von tausend Termiten kribbelte.
Verdammt, gleich kommt Lena. Und du trödelst hier vor dem Spiegel rum! Ihre Freundin würde natürlich wieder zetern und die Augen verdrehen, weil sie viel zu spät dran war. Immer dasselbe: Lena, die Gewissenhafte – und Carmen, das Chaos. Sie warf die Bürste auf den Boden und rannte in ihr Zimmer zurück. Ihre Handtasche, die kleine rote – hatte sie die nicht eben noch gesehen? Auf dem Schreibtisch? Neben dem Bett? Das gibt’s nicht!, dachte Carmen. Sie hastete im Zimmer umher und stolperte über etwas Kleines, Weiches. Die Tasche, na also. Und da klingelte auch schon Lena, aber wo um alles in der Welt waren ihre Hausschlüssel?
»Maria!« Mit klappernden Sandalen rannte sie die Treppe runter und rief nach ihrer Mutter. »Maria?« Keine Antwort. Nur Lena klingelte immer stürmischer. »Wo steckst du denn? Mama! Maria! Ich brauch deine Schlüssel – leihst du sie mir?«
Erst unten in der Diele fiel ihr ein, dass ihre Eltern noch unterwegs waren. Irgendeine wichtige Angelegenheit, wegen der sie seit Wochen geheimnisvoll taten. Auf einmal hatte Carmen ein ganz blödes Gefühl. Sie machte die Haustür auf und drehte sich gleich wieder um, ohne ihre Freundin auch nur zu begrüßen.
»Was ist denn mit dir?« Lena stürzte hinter ihr ins Haus und packte sie bei der Schulter. »Es ist nach acht – wir müssen los!«
»Ja, gleich. Ich muss nur noch meine Schlüssel…«, murmelte Carmen und streunte ziellos in der riesigen Diele herum. Regale voll archäologischer Schwarten und seltsamer Keramikscherben, die Maria irgendwo im Urwald ausgegraben hatte. Außerdem stapelweise Fachzeitschriften ihres Vaters – »Welt des Wasserbaus«, »Deichbau und Entwicklungshilfe« –, aber nirgendwo auch nur ein Schatten von ihren Schlüsseln. »Sie sind weg, ich versteh das nicht. Und meine Eltern sind auch weg«, jammerte Carmen und kam sich selbst ziemlich idiotisch vor.
Endlich blieb sie vor ihrer Freundin stehen, die ihr mit zusammengekniffenen Augen zugesehen hatte. Ihr war heiß und fast zum Heulen zu Mute. Diese verdammten Schlüssel! Warum ging bei ihr nur immer alles durcheinander – mit ihren Sachen, ihren Gefühlen, ihrem ganzen Leben? Und warum waren Maria und Georg niemals zur Stelle, wenn ihre Tochter sie ausnahmsweise mal brauchte?
»Carmen, das Chaos«, sagte Lena und schüttelte den Kopf, dass ihre blonden Locken wippten. »Dann komm eben ohne Schlüssel
mit. Zur Not kannst du ja bei mir schlafen – oder bei Nico«, fügte sie mit boshaftem Grinsen hinzu.
Carmens Knie wurden weich. Für einen Moment sah sie Nicos grüne Augen vor sich, sein braun gebranntes Gesicht, das sich zu einem Lächeln verzog. »Keine Sorge«, sagte sie. »Wenn wir von der Party kommen, sind meine Eltern bestimmt längst wieder da. Und Maria macht es nichts aus, wenn ich um Mitternacht klingele. Bei deinen Beamten-Eltern wäre das natürlich unmöglich«, fügte sie hinzu und grinste ihrerseits wie eine Teufelin.
Lena zog die Augenbrauen hoch, die so strichdünn und hellblond waren, dass man sie erst auf den zweiten Blick sah. »Da geb ich dir Recht«, sagte sie würdevoll. »Und wenn ich eines Tages mal Kinder hab – ich würde mich bedanken, wenn meine fünfzehnjährige Tochter mich mitten in der Nacht aus dem Bett klingelt.«
Typisch Lena, dachte Carmen, während sie durch den warmen Juliabend zum S-Bahnhof München-Moosach liefen. Ihre Freundin hatte ihr ganzes Leben längst vorausgeplant und wusste haargenau, was sie sich von welchem Lebensabschnitt erwartete: Abitur, BWL-Studium, Heirat, zwei Kinder, Beruf. Neben der unerschütterlich nüchternen Lena fühlte sich Carmen häufig so unbeherrscht wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Aber das kam eben von dem spanischen Blut ihrer Mutter, dachte sie. Und allerdings wohl auch von der chaotischen Lebensweise ihrer Eltern, die
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