Nachtblauer Tod
Bauchgefühl …« Büscher schüttelte angewidert den Kopf. Er wiederholte – zum wievielten Mal eigentlich? – seinen Standardsatz, dass am Ende nur Beweise zählen würden.
Kommissarin Schiller warf die Nordseezeitung von ihrem Schreibtisch auf den herrenlosen dritten im Raum. Inzwischen hatte sich darauf viel angesammelt. Akten, halbvolle Joghurtbecher von Büscher, Coffee-to-go-Deckel und ein paar alte Illustrierte.
Falls unsere Verstärkung jemals kommt, dachte Kommissarin Schiller, wird der Kollege erst einmal seinen Schreibtisch aufräumen müssen.
Sie betrachtete die bunten Briefe mit einer Mischung aus Neid und Abscheu. Sie konnte sich durchaus vorstellen, dass darin die Erklärung für den Mord an Kirsten Schwarz lag.
»Also, ganz koscher ist dieser Jörg Parks nicht. Im Grunde müssen wir Leon Schwarz dankbar sein, dass er uns darauf gestoßen hat …«
Büscher grinste. »Hast du diese Liebesbriefe etwa alle gelesen?«
»Das … naja, das könnte für den Fall nicht ganz bedeutungslos sein.«
Büscher winkte ab.
Nachdenklich sagte Schiller: »Sie hat diesen Typen echt geliebt, und sie hatte furchtbare Gewissenskonflikte.«
»Ja, Löckchen, und nun ist sie mausetot.«
Büschers Satz traf Schiller. In seiner Stimme klang fast so etwas wie Schadenfreude mit, als gönne Büscher allen untreuen Ehefrauen einen gewaltsamen Tod.
»Es gefällt mir nicht, wie du das sagst«, platzte sie heraus. »Ich höre da einen falschen Zungenschlag heraus.«
»Ach, stell dich nicht so an, Löckchen. Mensch, ihr Frauen seid aber auch empfindlich.«
Sie lag also richtig, folgerte sie und sagte es ihm ins Gesicht. »Du bist immer noch sauer auf deine Ex. Das ist es. Stimmt’s?«
»Ja«, gab er unumwunden zu. »Aber im Gegensatz zu Holger Schwarz habe ich sie nicht umgebracht, obwohl ich – glaub mir – manchmal nichts lieber getan hätte, wenn ich sah, wie sie mit ihrem Sunnyboy rumgeturtelt hat.«
Er schüttelte sich.
Scharf folgerte Kommissarin Schiller: »Und weil du solche Gefühle eines eifersüchtigen, betrogenen Ehemannes bei dir kennst, war Holger Schwarz für dich gleich der Hauptverdächtige. Richtig?«
Büscher empörte sich: »Nun hör aber auf, Löckchen!«
»Und sag nicht immer Löckchen zu mir!«
40
Je näher wir dem Mörder kommen, umso mehr muss ich nach außen Normalität heucheln, dachte Leon, deshalb ging er zur Schule. Er hatte Angst, sonst könnte sich das Jugendamt einmischen oder die Psychologin Müller-Felsenburg. Mit Ausnahme von Maik durften die Erwachsenen nicht wissen, was er tat. Je weniger bekannt war, umso weniger Schwierigkeiten würden sie ihm machen.
Die blaugestrichene Edith-Stein-Schule wirkte von außen wie eine Pralinenschachtel, bei der jeden Moment jemand die Verpackung abreißen konnte, kam ihm aber, als er die Glastüren durchschritten hatte, wie ein sicherer Raum vor.
Lehrer und Klassenkameraden benahmen sich vorsichtig, rücksichtsvoll. Er wurde nicht mit Fragen überschüttet, wie er befürchtet hatte. Sie ließen ihn in Ruhe.
Der Schulleiter ließ ihn wissen, dass er jederzeit für ihn da sei, und es klang ehrlich und nicht aufdringlich.
Ben hatte offensichtlich schon alle bestens informiert. Niemand sprach die Frage an, ob Leons Vater tatsächlich seine Mutter umgebracht hatte. Es ging um Mathe, Englisch und die Frage, welche Lektüre in Deutsch als Nächstes gelesen werden sollte. Ein Autor vom Bödeckerkreis hatte die Schule besucht, und jetzt wollten einige Schüler nicht einfach »Die Judenbuche« von Annette von Droste-Hülshoff als Klassenlektüre lesen, sondern die Anthologie »So wie du mir« mit 19 Variationen über »Die Judenbuche«, aus denen der Autor ihnen eine Geschichte vorgelesen hatte.
Es tat Leon gut, einen normalen Alltag zu spüren. Für kurze Zeit konnte er sogar vergessen, was geschehen war, oder es trat zumindest in den Hintergrund. Die ständige Dominanz der Mordnacht drohte ihn verrückt zu machen und alle anderen Gedanken zu fressen. Er hatte sogar das Gefühl, sein Gesichtsfeld sei eingeschränkt und würde sich langsam in der Schule wieder ausweiten.
Er schüttelte den Kopf wie ein Pferd, das seine Scheuklappen loswerden will, und atmete durch. Zum ersten Mal im Leben empfand er die Schule als Freiraum, in dem er sich sicher und ruhig bewegen konnte.
Bei den Fischers gab es Spaghetti, diesmal mit Miesmuscheln aus der Nordsee und obendrauf ein in Ei gebackenes Limandesfilet, Maik triumphierte stolz, nirgendwo
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