Nachtblüten
Lorenzini streckte den Kopf herein. »Haben Sie gerufen?«
»Nein, nein… Ich meine – ach, nichts. Hab nur laut gedacht, ‘tschuldigung.«
»Macht nichts, ich wäre sowieso gekommen. Das hier schickt Ihnen der Staatsanwalt. Ergänzung zum Autopsiebericht im Fall Sara Hirsch. Und das Krankenhaus hat angerufen, wegen des albanischen Mädchens. Sie hätten darum gebeten, daß man Sie auf dem laufenden hält.«
»Wie geht’s ihr?«
»Sie haben noch mal operiert. Zustand des Mädchens ist stabil. Was in ihrem Fall aber wohl nicht viel heißt, oder?«
»Nein. Nein, wirklich nicht.«
»Fast möchte man wünschen… nun ja. Ach, und dann wartet draußen noch ein junger Mann auf Sie.«
»Und er besteht darauf…«
»…nur mit Ihnen zu sprechen, ja.« Zwar hatte sich mittlerweile auch Lorenzini eine ganz beachtliche Klientel erworben, aber die Leute akzeptierten im einen wie im anderen Fall keinen Ersatz für den Mann ihres Vertrauens. Der Maresciallo blickte stirnrunzelnd auf das Blatt Papier vor sich. Ein paar flüchtige Bemerkungen, eine Handvoll Daten. Der große Ermittler! Er hätte sich geschämt, dem Staatsanwalt oder auch nur Lorenzini seine Notizen zu zeigen. Lorenzini war aufgeweckter, mehr auf Draht, jünger. Allein, mit Stolz war kein Fall zu lösen.
»Also gut, schicken Sie ihn rein – aber erst werfen Sie noch einen Blick auf die Daten hier, ja? Diese beiden Männer, die wir heute morgen festgenommen haben…«
»Falaschi und Giusti?«
»Genau. Der Antiquitätenhändler, für den sie arbeiten, Rinaldi, was wissen Sie über den?«
»Nun, ich kenne ihn. Hin und wieder mache ich Stichproben bei ihm anhand der monatlichen Liste gestohlener Wertgegenstände.«
»Und was halten Sie von ihm? Gerissen, wie, ein Gauner?«
»Das würde ich nicht sagen, nein. Aber für ehrlich halte ich ihn auch nicht. Das genaue Gegenteil von dem Händler an der Piazza San Felice, der seine Sachen selber restauriert und ein passionierter Handwerker ist. Rinaldis Passion, wenn er überhaupt eine hat, ist der Profit. Und ich glaube nicht, daß er direkt ein Gauner sein muß, wie Sie es nennen, um bei seiner Art von Geschäften zum Zuge zu kommen. Ich habe ihn schon seit Jahren auf dem Kieker, aber bis jetzt hatte ich nie was gegen ihn in der Hand, und das weiß er. Er würde uns glatt ins Gesicht lachen, wenn wir gegen ihn vorgehen wollten.«
»Davon bin ich überzeugt. Aber schauen Sie sich diese Daten aus dem Fall Hirsch trotzdem mal an, ja? Rinaldi sagt, er habe den Laden nach dem Krieg übernommen. Nun versuche ich die Zusammenhänge herzustellen und komme nicht weiter. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber… alle in dieser Geschichte sind Juden, bis auf Rinaldi, das ist das eine. Ach, nehmen Sie einfach die ganze Akte mit und bringen Sie sie mir wieder, wenn ich mit diesem Mann gesprochen habe.«
»Ich schicke ihn rein.«
Die engen Wohnverhältnisse, Liebe, Ehe… was immer der Grund gewesen sein mochte, dem Maresciallo stand am deutlichsten das Bild vor Augen, das er in Wirklichkeit nie gesehen hatte. Das von dem Mädchen mit den Zöpfen neben dem jungen Mann im dunklen Anzug. Die Verhältnisse, Liebe, Ehe… mit siebzehn schwanger in einem fremden Land, auf der Flucht vor Krieg, Rassenhaß, Verfolgung.
»Mama!«
Das war Enkeledas Stimme. Auch sie noch ein Kind. Man hatte sie noch einmal operiert… Ein junger Mann war leise hereingekommen und stand nun vor seinem Schreibtisch. Das Gesicht kam dem Maresciallo bekannt vor, blaue Augen, die angenehme Assoziationen weckten, ohne daß er sie hätte einordnen können.
»Sie werden sich wohl nicht mehr an mich erinnern. Wir sind uns neulich in der Villa L’Uliveto begegnet. Ich arbeite dort als Gärtner.« Zögernd, fast schüchtern fuhr er sich mit der Hand durch die glatten blonden Strähnen. In diesem kleinen Büro wirkte er ungewöhnlich groß. Der Maresciallo hatte ihn schon einmal gesehen, aber im Freien… »Natürlich! Der arme Verwandte – oh, verzeihen Sie! Ich wollte nicht…«
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Schließlich habe ich mich Ihnen ja so vorgestellt. Mir geht’s übrigens genauso. Ich vergesse niemals ein Gesicht, aber wenn ich jemanden in anderer Umgebung wiedertreffe, dann weiß ich nicht, wen ich vor mir habe. Ich heiße Jim. Aber auch wenn Sie jetzt wissen, wer ich bin, wundern Sie sich wahrscheinlich immer noch über meinen Besuch. Darf ich mich setzen? Ich sagte Ihnen doch neulich, wir sollten uns mal unterhalten, wissen
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