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Nachtblüten

Nachtblüten

Titel: Nachtblüten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Magdalen Nabb
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Schreibtisch zurecht und schlug das große Fotoalbum auf. Es hatte keinen Staub angesetzt, denn es war sehr sorgsam in einer braunen Samthülle mit einer Kordel zum Zuziehen aufbewahrt worden. Die ältesten Fotos stammten noch aus dem letzten Jahrhundert und zeigten Grüppchen steif posierender Damen mit hohen Spitzenkragen und aufgetürmter Coiffure. Das Album war vermutlich nicht so alt wie diese ersten Bilder, die in Passepartouts steckten, welche überhaupt nicht in die perforierten Schlitze paßten und lose unter dem schützenden Seidenpapier zwischen den Seiten lagen. Auf dem Passepartout war der Name des Fotografen vermerkt, in einer schnörkeligen Schrift, die nicht zuletzt deshalb so schwer zu entziffern war, weil es sich um einen ausländischen Namen handelte. Darunter stand, in Druckbuchstaben und deutlich lesbar: PRAHA, was der Maresciallo sich mit ›Prag‹ übersetzte. Einige Bilder von einzelnen Damen oder Ehepaaren waren vor antikisierenden Requisiten aufgenommen, einer Marmorsäule oder einem malerischen Torbogen, andere hatten einen Gartenprospekt oder eine Landschaftsszene als Hintergrund. Es folgten Porträtaufnahmen von Offizieren, die entweder steif, die Handschuhe auf den Knien, in einem Sessel saßen oder stehend, die Hand am Säbel, in Paradeuniform posierten. Ein Foto sah aus wie ein Verlobungsbild. Der junge Mann in Uniform blickte starr in die Kamera, die Braut sah, auf seinen Arm gestützt, zu ihm empor. Dann dasselbe Paar im Hochzeitsstaat, wieder ein Bild im Passepartout, das lose zwischen den Seiten lag, 1919 vom nämlichen Prager Fotografen aufgenommen. Etwas weiter hinten folgte ein anderes Hochzeitsfoto, diesmal mit Brautjungfern, die mit gekreuzten Beinen und riesigen Buketts im Vordergrund saßen. Dieses Bild war undatiert, aber der Maresciallo schätzte, daß es später aufgenommen war, nach den glitzernden Stirnbändern der Frauen, dem engen Rock und den spitzen Schuhen der Braut zu urteilen, wahrscheinlich Ende der zwanziger Jahre. Inzwischen paßten die Bilder auch in die vorgestanzten Schlitze, und die Aufnahmen wirkten nicht mehr so pompös und gestellt. Statt der steif herausgeputzten jungen Leute vor Marmorsäulen und gemalten Landschaftsprospekten saßen pausbäckige Kinder auf pelzbespannten Schemeln, barfuß und – Jungen wie Mädchen – in Hängerkleidchen und mit offenen Locken. Namen und Alter waren in gestochener Schrift unter den sepiafarbenen Aufnahmen vermerkt.
    »Ruth mit fünf, 1930.«
    Da war sie, Sara Hirschs Mutter im weißen Matrosenkleidchen, eine Atlasschleife im langen, braunen Haar… Ein anderes Bild zeigte sie mit den Eltern im Park, einem echten, keiner Atelierkulisse. Er blätterte ein oder zwei Seiten zurück und fand dasselbe Paar, die Frau mit einem Säugling auf dem Arm, der in ein großes Umschlagtuch gehüllt war. Er sah genauer hin. Sie standen in einem Hauseingang, und über dem schmalen Fenstergiebel zu ihrer Rechten prangte ein Namenszug, von dem nur das H am Anfang deutlich zu erkennen war.
    Weiter hinten entdeckte er das Paar wieder, inzwischen etwas gesetzter und offenbar zur Feier irgendeines Jahrestages fotografiert, sie in einem prächtig geschnitzten Sessel, er stehend dahinter, im taillierten Anzug mit steifem runden Kragen. Saras Großeltern. Der letzte Teil des Albums war leer geblieben. Die Welt dieser Familie war in den dreißiger Jahren untergegangen. Saras Mutter Ruth hatte das Fotoalbum, den siebenarmigen Leuchter, den Gebetsschal, den Talmud und ihre Geschichte, ihr kulturelles Erbe mit nach Florenz gebracht, wo ihre Eltern Bekannte hatten, Geschäftsfreunde, bei denen sie die Tochter in Sicherheit wähnten. Eine schwere Bürde für ein so junges Mädchen. Der Maresciallo war sicher, daß Samuel Roth in der Sdrucciolo de’ Pitti dieser Geschäftsfreund gewesen war. Und Jacob Roth, sein Sohn, der so klug war und so begabt… »Ich wette, er war Saras Vater!« sagte der Maresciallo laut. »Wo ist nur dieses eine Foto? Ich könnte schwören, daß die kleine Lisa Rossi…« Er hatte schon den Telefonhörer in der Hand, als Lorenzini klopfte und eintrat. »Was ist denn?«
    »Besuch für Sie. Dauert nur eine Minute. Ich habe alles versucht, aber…«
    »Nein, nein. Ist schon gut. Schicken Sie ihn rein.« Denn jetzt war er sich seiner Sache sicher, konnte das komplette Bild im Kopf behalten. Selbst das umständlichste Gerede würde ihn nun nicht mehr aus dem Konzept bringen.
    »Es ist eine Sie.«
    »Was?« Aber Lorenzini war

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