Nachtblüten
schon wieder verschwunden.
Statt seiner erschien Dori auf der Schwelle.
»Nein…!«
»Doch! Ich hab’s getan, und zum Beweis, hier der Ring. Natürlich haben wir nur standesamtlich geheiratet.« Sie sah hinreißend aus. Dori war immer ein hübsches Mädchen gewesen, aber jetzt bemerkte er eine Veränderung an ihr. Vielleicht lag es daran, daß sie sich weniger auffällig kleidete, vielleicht an dem neuen, geregelten Lebenswandel. Daß sie schwanger war, sah man ihr noch immer nicht an, aber sie war eben auch ungewöhnlich groß und schlank. »Ich sehe, Sie haben zu tun, Maresciallo.«
»Nein, nein, ist schon recht. Setzen Sie sich einen Moment.«
»Na gut.« Sie nahm ihm gegenüber am Schreibtisch Platz. »Was ist das? Ihr Familienalbum?«
»Nein, das von jemand anderem.«
»Hm. Dabei fällt mir ein: Sie haben mich angelogen. Marios Mutter lebt gar nicht mehr.«
»Ich weiß. Tut mir leid…«
»Schon recht. Sie sind ein guter Mensch. Sie haben Enkeleda ein paarmal im Krankenhaus besucht, stimmt’s?«
»Das hat sie Ihnen erzählt? Sie ist also wieder klar im Kopf?«
»Machen Sie Witze? Die Ärzte sagen, sie ist geistig auf dem Stand einer Fünfjährigen, und wahrscheinlich wird’s dabei bleiben. Die Frau im anderen Bett hat mir von Ihren Besuchen erzählt, die mit dem rasierten Schädel und den Nähten am Kopf… Du lieber Himmel!«
»Ich weiß…«
»Na, jedenfalls versuchen sie Enkeleda in einer Spezialklinik unterzubringen, wo sie wieder laufen lernen soll. Sie macht soweit einen ganz zufriedenen Eindruck. Aber Pictri, das Schwein…«
»Vergessen Sie nicht Ihren Freund, seinen Vetter Ihr, der auch nicht vor solch drastischen Bestrafungen zurückschreckte, wenn eins seiner Mädchen nicht gespurt hat.«
»Ach, Ihr ist schon in Ordnung. Aber ich gehe jetzt lieber und überlasse Sie Ihrem Familienalbum. Nochmals danke, Maresciallo.«
»Ihre Zeugenaussage ist mir Dank genug.«
»Und danke auch, daß Sie sich um Enkeleda gekümmert haben, das arme Ding.«
»Sie hat Pech gehabt.«
»Ja, sie kam als Frau zur Welt.«
Enkeleda… Lange nachdem Dori gegangen war, sah der Maresciallo immer noch den schlaffen kleinen Körper vor sich. – Abermals griff er zum Telefon und wählte die Nummer der Rossis. – Selbst wenn sie wieder laufen lernte, was sollte aus ihr werden? Wo sollte sie hingehen?
»Signora Rossi? Hier Maresciallo Guarnaccia, guten Abend, guten Abend. Ich wollte fragen, ob ich kurz mit Ihrer Tochter sprechen kann – nein, nein, nur etwas, das sie mir erzählt hat und das ich noch einmal überprüfen möchte. Ach, und Signora – wenn Sie so gut wären, sie solange allein zu lassen? Sie hat das Gefühl, daß sie Signora Kirschs Vertrauen genoß, und ich versuche das zu respektieren… Nein, ich glaube nicht, daß sie etwas weiß, das ihr gefährlich werden könnte, außerdem ist sie sehr verschwiegen… danke. Lisa? Lisa, erinnerst du dich noch, wie du mir von den geheimen Fotos im Safe erzählt hast? Nein, ich bin sicher, du hast nichts verraten, und ich auch nicht. Sag mir nur noch mal, ob ich das richtig behalten habe: Da war ein Foto von ihren Eltern, ja? Kannst du mir darüber ein bißchen mehr erzählen? Zum Beispiel ob es aussah, als sei es in einem Fotoatelier aufgenommen worden oder in einem Haus oder im Freien. Was? Tatsächlich? Du bist dir ganz sicher – sie hat es dir selbst gesagt? Kann ich mir vorstellen, ja, schon sehr lange her. Und war sonst noch jemand auf dem Bild? Nur die beiden – wie alt, glaubst du, waren sie? Versuch mir zu beschreiben, wie sie aussahen. Verstehe. Gut, Lisa. Und nun denk einmal ganz genau nach: Hat sie dir je ein Foto von ihrem Bruder gezeigt oder auch nur erwähnt, daß sie eines von ihm hat? Nein. Und das geheime Bild, das war das von ihren Eltern? Richtig, und die Blumen, das Bild mit den Blumen. Danke, Lisa, du hast mir sehr geholfen. Ja, sehr wichtig… und vorläufig immer noch ein Geheimnis, ja. Da kannst du ganz beruhigt sein, ich habe nämlich deine Mama gebeten, dich nicht danach zu fragen. Wenn alles vorbei ist, werden wir’s ihr gemeinsam erzählen. Gib sie mir noch mal, bitte… Signora, haben Sie vielen Dank für Ihre Hilfe – doch, das haben Sie. Ja, das stimmt. Zwei Festnahmen. Sie haben’s schon gehört… in den Halb-acht-Uhr-Nachrichten? Ist es denn schon so spät?«
Er durfte nicht wieder zu spät zum Abendessen kommen. Trotzdem blieb er noch einen Moment sitzen und rekapitulierte, was Lisa ihm erzählt hatte.
Er sah alt
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