Nachtblüten
aus – ich meine, wie ein Erwachsener. Alle Erwachsenen sehen ein bißchen alt und traurig aus auf diesen braunen Bildern, und er hatte auch noch so traurige Sachen an, einen ganz strengen dunklen Anzug und einen schwarzen Hut. Er war lang und dünn und finster, aber sie war noch ein kleines Mädchen. Sie reichte ihm bloß bis zur Schulter, und Zöpfe hatte sie.
Ein kleines Mädchen. Das man allein, mit ihrer Vergangenheit in einem Koffer, auf die Reise schickte, dorthin, wo die Eltern es in Sicherheit wähnten. Wo das Foto aufgenommen war.
Sie hat’s mir gesagt. Und man konnte sogar die Sachen hinter ihnen im Schaufenster sehen. Es wurde hier bei uns in der Sdrucciolo de’ Pitti aufgenommen.
Ja, natürlich. Er hatte es ja von Anfang an gesagt und war nie von seiner Überzeugung abgewichen. Egal, welche Rolle Prag spielen mochte oder London – er wußte, daß es sich um eine Florentiner Geschichte handelte und die wichtigen Puzzlesteine alle hier zu finden waren. Hier bei uns in der Sdrucciolo de’ Pitti… Und dieser Rinaldi war schuldig, das war so sicher wie das Amen in der Kirche, aber wodurch hatte er sich schuldig gemacht? Er sagte, er hätte die Träger für nichts und wieder nichts bezahlt. Statt der vereinbarten Ware hätten sie ihm eine Leiche aufgehalst und eine Morduntersuchung vor der eigenen Haustür.
Der Maresciallo nahm einen Bogen Papier aus der Schreibtischlade und kritzelte eine Liste auf die linke Seite des Blattes.
Foto der Eltern in der Sdrucciolo de’ Pitti Foto eines Blumenbildes Video?
Lisa hatte in Saras Safe kein Video gesehen, aber wenn alle Videos aus dem Schrank verschwunden waren… Rinaldi hatte die Männer nicht umsonst bezahlt. Alle denkbaren Beweise waren beseitigt worden.
»Nein, nein«, sagte der Maresciallo laut. Sara Hirsch hatte Angst gehabt, aber sie war nicht dumm gewesen, und worum auch immer es bei dieser Geschichte gegangen war, es hatte ihr ganzes Leben bestimmt. Rinaldis Helfershelfer waren zuvor schon bei ihr eingedrungen. Nach den ersten Warnungen wäre sie kein Risiko mehr eingegangen.
Sprechen Sie mit Ihrem Rechtsanwalt und sagen Sie ihm, was ich Ihnen geraten habe.
Das werde ich. Ich bin entschlossen, meine Rechte zu verteidigen.
Ihr Anwalt. Er mußte ihren Anwalt finden. In der Wohnung hatten sie nicht den kleinsten Hinweis auf ihn entdeckt. Das zumindest war Rinaldi gelungen. Wenn Jacob Roth Saras Vater war, dann hatten sie vermutlich denselben Anwalt gehabt, diesen Umberto D’Ancona. Wenn er ihr Vater war… Auf der rechten Seite seines Merkblatts notierte er ein paar weitere Stichworte, die er aus den wenigen amtlichen Dokumenten der Akte Hirsch kopierte. Aus dem Grundbuchauszug das Geburtsdatum von Jacob Roth, aus den Taufurkunden das von Sara und ihrer Mutter. Das Jahr, in dem Jacob das Haus in der Sdrucciolo de’ Pitti gekauft hatte. Diese wenigen Fakten, und es waren ihrer herzlich wenige, mußten zusammenpassen. Taten sie es, dann würde sich irgendwo eine Lücke ergeben. Eine Leerstelle, die ihm, wenn er sie richtig interpretieren konnte, zeigen würde, wonach er zu suchen hatte.
Jacob Roth war 1913 in England geboren.
Ruth Hirsch kam 1925 in der Tschechoslowakei zur Welt.
Auf dem Foto, das Lisa gesehen hatte, war Ruth ein Kind mit Zöpfen, der um zwölf Jahre ältere Jacob ein erwachsener Mann in Anzug und Hut. Aber Ruth wuchs heran. Die Wohnungen in dem Haus in der Sdrucciolo de’ Pitti hatten jeweils nur zwei Schlafzimmer, doch es war Krieg, die Menschen mußten sich irgendwie arrangieren. Und 1943 wurde Ruth schwanger. War es Liebe, waren es diese engen Wohnverhältnisse, waren sie verheiratet? Nein, letzteres wohl nicht, warum sonst das Kloster? Jacob besaß einen britischen Paß und hätte sie noch vor der Okkupation außer Landes bringen können. Hatte er Italien verlassen? Wo war er, daß es ihm gelang, den Krieg zu überleben, während Ruth sich in einem Kloster verstecken mußte und seine Eltern deportiert und im KZ ermordet wurden?
Es lief immer wieder auf die gleiche Frage hinaus: Wo war Jacob Roth? Wo war er damals, wo starb er, wo lag er begraben? Rinaldi hatte nur sehr widerwillig über ihn Auskunft gegeben und wußte bestimmt sehr viel mehr, als er ihnen erzählt hatte. Und natürlich wußte man nicht, ob das, was er gesagt hatte, der Wahrheit entsprach.
»Moment mal! Rinaldi…« Der Maresciallo machte sich eine Notiz, die Übernahme des Antiquitätengeschäfts durch Rinaldi betreffend.
Die Tür ging auf, und
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