Nachtbrenner
und Neil glaubte so etwas wie Anteilnahme in ihrer Stimme zu hören. »Na, komm und iss erst mal.«
Die Gruppe hockte sich um den Kessel, und der stumme Mann, dessen schwarze Haare zu einem Zopf geflochten waren, füllte der Reihe nach ihre Näpfe. Was auch immer in der dicken Suppe drin sein mochte, Neil glaubte, noch nie etwas Besseres gegessen zu haben.
»Brauchen neue Vorräte«, sagte der Stumme plötzlich, und dem Jungen fiel vor Überraschung der Löffel aus den Fingern. Die Hobos lachten herzlich.
»Sagt nicht viel, unser Indianer«, kicherte Suki, »hast wohl gedacht, er ist stumm, was?«
Er nickte verlegen. Es gefiel ihm nicht, sich vor diesem Mädchen lächerlich gemacht zu haben. Sie waren so anders, diese Hobos, lachten so, als gäbe es für sie keinen Grund, ums Überleben zu fürchten oder an den nächsten Tag zu denken, und das mitten in dem härtesten Winter, den dieses Land je erlebt hatte.
»Wir brechen in ein oder zwei Tagen auf«, erklärte die Frau. »Wo willst du hin?«
»Nach Westen, an die Küste«, sagte er stolz.
»Liegt auf unserem Weg, kannst mitkommen, wenn du willst, Junge.«
»Danke, Mr. Indianer.« Diesmal überraschte ihn das Gelächter der Gruppe nicht. Doch er grübelte noch lange über die Antwort des Stummen nach. Weiter als nach Westen? Da lag die verbotene Zone, war dies etwa das Reiseziel der Hobos?
Am nächsten Morgen packte die Sippe ihre Habseligkeiten zusammen. Wertvolle Medizinpäckchen, Konserven, eine Art Buch, das mehrmals gefaltet war und allerlei Gegenstände, deren Bedeutung dem Jungen verschlossen blieb. Die drei Männer und zwei Frauen zogen Jacken aus dem zottigen Material und feste Stiefel an, rollten die Decken auf und schnallten sich die schweren Traglasten mit Gurten auf den Rücken. Neil hatte ebenfalls warme Kleidung erhalten.
»Wirst sie schon abarbeiten«, winkte die Anführerin ab, als er sich bedanken wollte.
Dann brachen sie auf. Das Mädchen Suki ging als Letzte, sie trug den Herdkessel, in dem sich noch die Glut befand. Wie die anderen Mitglieder der Sippe, war sie gleichzeitig von unbekümmerter Fröhlichkeit, verrichtete aber ihre Aufgaben mit einer Ernsthaftigkeit, die Neil fremd blieb.
Doch schon bald sollte dieses Gefühl der Fremdheit vergehen, aus zufälligen Weggefährten Freunde werden. Meile um Meile legten sie zurück, immer entlang den alten Eisenbahnschienen, die oft von hohen Schneewehen verdeckt wurden, doch das seltsame Buch sagte ihnen, welche Richtung sie einschlagen mussten.
Neil wurde eingeteilt, Feuerholz entlang der Route zu besorgen, und er machte seine Arbeit gut. Zuerst wurde er von dem Schweigsamen, den sie Indianer nannten, oder dem Mädchen Suki begleitet – sie sollten wohl ein Auge auf den Stadtjungen haben. Jedoch fragten sie ihn niemals aus. Vermutlich war es ihnen gleichgültig, dass er ein Ausreißer war. Später einmal, als der Schnee zu Regen geworden war, fragte er Bohne danach.
»Gleichgültig? Nein Junge, aber uns Hobos gehört das ganze Land, kein Grund irgendwohin auszureißen, oder?«
»Aber wollt ihr nicht in die verbotene Zone, das ist doch wie weglaufen.«
»Verbotene Zone?« Bohne sah ihn verdutzt an. »Wir besuchen unsere Freunde da unten im Süden, wie jedes Jahr, was kann daran verboten sein?«
Neil wollte zu einer Erklärung ansetzen, schwieg dann jedoch nachdenklich. Konnte es sein, dass es nicht nur eine Wahrheit gab, und wenn ja, was war dann die Wirklichkeit, und wen sollte er danach fragen? Marty, den gutmütigen Bohne oder die spöttische Suki? Seine Füße sprangen von Bohle zu Bohle, wie von allein. Vielleicht war das die Antwort – nur er allein konnte eines Tages für sich entscheiden, was die Wahrheit war.
Suki war es dann, die ihm eine andere Antwort gab. Inzwischen waren sie schon viele Monate unterwegs, hatten kleine Städte in der Dunkelheit betreten und im Morgengrauen wieder verlassen. Und fast jedes Mal kam der Indianer mit Proviant beladen von seinen nächtlichen Ausflügen zurück. Manchmal blieben sie mehrere Tage in einer verlassenen Ortschaft, und Neil durchsuchte die Ruinen. In einer fand er das Buch.
Aus irgendeinem Grund zeigte er es dem Mädchen. Vorsichtig strich es den zerrissenen Einband glatt und bewegte lautlos die Lippen.
»Gefällt es dir?« fragte er einfältig.
»Woher hast du es?« Suki wandte ihm das Gesicht zu, in den Augen ein gespanntes Funkeln.
»Hab’s vor ein paar Tagen aus einem der Häuser geholt.« Vage deutete er mit der Hand zum
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