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Nachtbrenner

Nachtbrenner

Titel: Nachtbrenner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Myra Çakan
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Vielzweckmesser gegen einige Gegenstände aus der Ruine der Bibliothek einzutauschen. Er hatte oft Glück auf seinen Touren, war gelenkig und mutig, kannte die besten Einstiege in die zerfallenen Gebäude.
    Und jetzt war es soweit. Noch heute wollte er die Stadt verlassen. Er wusste, in der kalten Jahreszeit aufzubrechen, war riskant, aber sie würden auch nicht lange nach ihm suchen.
    Nach Westen ziehen, die alten Eisenbahnschienen entlang, an die Küste mit ihren warmen Sonnentagen. Er hatte seine Träume, seine Pläne in vielen einsamen, ruhelosen Stunden durchdacht.
    Doch jetzt, als er in der schiefergrauen Dämmerung zum Stadtrand lief, überkamen ihn Zweifel. Das Stahlgerippe des ehemaligen Güterwagendepots ragte wie das Skelett eines Urzeittiers in den niedrigen Himmel.
    Neil kauerte im Windschatten eines umgestürzten Containers, die Arme um den mageren Körper geschlungen. Im Sommer hatte der Ort so anders ausgesehen, wie ein wunderbares Land der Abenteuer. Fremdartig gekleidete Leute saßen im Kreis um ein Lagerfeuer, sangen und lachten, während er atemlos und ungesehen lauschte.
    »He, aufwachen, Junge.« Eine fremde Stimme aus einer anderen Welt. »Marty, komm rüber und hilf mir.«
    »Der ist hinüber, Bohne.«
    »Unsinn, Marty, pack mal mit an.«
    Verschwommen merkte der Junge, wie er angehoben wurde. Grob packte eine schwielige Hand sein Kinn und hob den Kopf an, dann wurde ihm eine scharfe Flüssigkeit eingeflößt. Hustend und würgend setzte er sich auf, schaute sich blinzelnd um.
    »Gib ihm noch ’nen Schluck, Marty, der wird wieder.«
    »So ein Unsinn, da draußen einfach einzuschlafen«, schimpfte eine dritte Stimme.
    Langsam nahm die Umgebung Konturen an. Er konnte sich nicht mehr erinnern, was in den letzten Stunden passiert war. Anscheinend war er noch in dem Depot, vermutlich in einem der wenigen noch erhaltenen Güterwaggons. Ein kleines Feuer brannte, und an einem Gestell über den Flammen hing ein Kessel, in dem ein Mann von Zeit zu Zeit rührte. Ihm gegenüber hockte ein zweiter Mann, der sorgfältig eine zerkratzte Steingutflasche verkorkte. Er war glattrasiert und hatte gutmütige Augen. Jetzt drehte er sich zu der Frau um, die als dritte gesprochen hatte.
    »Was meinst du, ob er schon essen kann?«
    »Frag ihn doch selber, Bohne«, antwortete sie mürrisch.
    Eine Decke wurde zur Seite geschlagen, und ein dritter Mann grinste Neil an.
    »Wie ich sehe, hat dich mein Selbstgebrannter wieder auf die Beine gebracht.«
    Neil grinste zurück. Er kannte die Stimme wieder; es war der, den sie Marty riefen.
    »Seid ihr Hobos?«
    »Bist ja ’n ganz Schlauer«, brummte die Frau. Sie war wohl die Sippenälteste. Von ihrer Stimme hing es ab, ob er bleiben konnte.
    »Ja, Ma’am«, sagte er unsicher.
    Die drei Männer lachten brüllend.
    »Kannst du arbeiten?« Sie musterte ihn abschätzend, doch Neil sah, dass ihre Augen lachten.
    »Ja, Ma’am«, wiederholte er selbstbewusst.
    »So, das werden wir ja sehen«, sagte sie gedehnt. »Aber fürs Erste kannst du bleiben.«
    »Lass den Jungen doch erst mal essen, Leila«, sagte der Bohne Genannte.
    »Wir warten noch auf Suki«, bestimmte die Frau.
    Neil setzte sich auf und schaute sich neugierig um. Er fühlte sich etwas schwindelig und irgendwie losgelöst; er fragte sich, was wohl dieses »Selbstgebrannte« für ein Zeug gewesen sein mochte. Aber wenigstens war ihm wieder warm. Er lag auf einer dicken Decke, aus lauter bunten Flicken, zugedeckt mit einem braunen, zottigen Ding, das ziemlich merkwürdig roch; er fragte sich, ob es womöglich das Fell eines Tieres sein konnte. Über die Hobo-Sippen erzählte man sich seltsame Geschichten.
    Erneut wurde die Decke zur Seite geschlagen. Ein Wesen, so zottig wie Neils Decke, huschte herein. Der Junge hielt erschrocken den Atem an, als sich das Ungeheuer mit klobigen Händen an den Kopf griff. Eine Kapuze wurde zurückgeschlagen, und ein Mädchen in seinem Alter, mit kältegerötetem Gesicht, sah den Jungen erstaunt an. Der lachte sie erleichtert an – bei diesen Hobos konnte man nie wissen.
    »Setz dich, Suki. Wir haben heute einen Gast.«
    »Gast«, grinste Marty, »Bohne hat ihn bei den Containern gefunden, war schon fast Frierfleisch, der Kleine. Aber ihr wisst ja, wie er ist –«
    Der Mann lachte gutmütig. »Sag, wie heißt du eigentlich, Junge?«
    »Neil.« Und der Vollständigkeit halber fügte er hinzu: »Ich bin heute abgehauen.«
    »Wohl aus der staatlichen Verwahranstalt?« fragte die Frau,

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