Nachtengel
Mindestmaß reduziert.
Joanna sah sie immer noch starr an. Roz schüttelte den Kopf. »Ich will mal sehen, ob Luke mehr weiß«, sagte sie. Joanna dachte darüber nach, ohne es zu kommentieren, und begann dann über Aufträge zu reden, die erledigt werden mussten. Etwas schoss Roz durch den Kopf, und sie nahm sich vor, in Gemmas Terminplan nachzusehen. Da war doch etwas … Sie schob es auf und hörte Joanna zu, die schließlich zu Ende kam.
»… und dann ist da noch der Bericht für das Berufungsgericht, und das war's dann.« Sie sah auf die Uhr. »Peter Cauldwell möchte mich sprechen.« Statt eines zusätzlichen Kommentars zog sie eine Augenbraue hoch. »Ich treffe ihn in einer halben Stunde.«
Berichte! Das war es, was Roz eingefallen war. Gemmas Analyse der Sprachaufnahme, die sie von der Polizei in Hull bekommen hatten. Gemma hatte gesagt, sie würde ihren Bericht heute per Telefon durchgeben, aber sie wolle vorher noch etwas mit Roz besprechen. Roz runzelte die Stirn. Sie konnte sich nicht vorstellen, was für ein Problem Gemma damit gehabt haben könnte. Es war ein ziemlich einfacher Auftrag gewesen, obwohl die Aufnahme selbst … merkwürdig war. Der Bericht würde wahrscheinlich auf Gemmas Schreibtisch liegen. Sie könnte nachsehen, ob es irgendwelche offensichtlichen Probleme gab, und ihn dann selbst telefonisch durchgeben. Gemma konnte dann die schriftliche Fassung fertig machen und sie übers Wochenende losschicken. Wenn der Bericht nicht da war … Dann wusste bestimmt Joanna Bescheid.
Zuerst Luke oder Gemmas Bericht? Der Bericht war wichtiger. Sie ging wieder den Korridor entlang zu Gemmas Büro und schaltete den Computer ein. Das Passwort kannte sie – Gemma und sie brauchten öfter Zugriff auf ihre jeweiligen Dateien. Sie ließ die Liste der Dokumente durchlaufen: akustische Profile, grundlegende Frequenzanalyse von … Hier war es: Entwurf, Bericht Hull. Roz öffnete die Datei, sah sich die Einzelheiten an und rief sich ins Gedächtnis, was genau Gemmas Aufgabe gewesen war. Die Aufnahme aus Hull war die polizeiliche Vernehmung einer Frau, die möglicherweise aus Osteuropa kam. Sie war Gemma mit dem Auftrag geschickt worden, die geographische Herkunft der Frau genauer festzustellen.
Roz blätterte den Schriftverkehr durch. Die Polizeibeamtin, die sich an Gemma gewandt hatte, war eine gewisse Lynne Jordan, Detective Inspector. Mit dem Tonband war eine klar formulierte Anfrage gekommen. DI Jordan wollte wissen, wo die Frau herkam, deren Muttersprache offensichtlich nicht Englisch war. Über das Band selbst gab es nur sehr wenig Information.
Roz hatte es mit Gemma zusammen angehört und fand den stockend gesprochenen Text, der nur schwer zu verstehen war, beklemmend. Sie fragte sich, was der Frau, die auf dem Band sprach, geschehen war und warum DI Jordan sie nicht direkt fragen konnte, woher sie kam. Gab sie vor, von woanders zu kommen, aus einem EU-Land, damit sie in Großbritannien bleiben durfte? War sie geflüchtet? War sie schon mal abgeschoben worden? Oder gestorben?
Er (sie) schlagen … ich sage nein, er (sie) machen, er …
Es ging Roz nichts an. Sie gab den Befehl ›drucken‹ ein und überflog den Berichtsentwurf auf dem Bildschirm. Als er ausgedruckt war, las sie ihn genauer. Er war typisch für Gemma: Sehr gründlich und klar und, soweit Roz das beurteilen konnte, vollständig. Ob Gemma das Problem, was immer es gewesen war, gelöst hatte? Aber trotzdem fragte sie sich, was Gemma mit ihr hatte besprechen wollen. Sie saß nachdenklich da. Am späten Mittwochnachmittag war Gemma zu Roz ins Büro gekommen, um zu sagen, dass sie am nächsten Tag an Joannas Stelle nach Manchester fahren musste. »Joanna hat es mir gerade gesagt. Sie will mir später die Einzelheiten mitteilen.« Sie schien verärgert, hatte ihre Tasche abgestellt und darin nach ihren Notizen gesucht, dann war der Füller, dessen Kappe sie abnehmen wollte, quer durch den Raum geflogen.
Roz hatte ihr die Sachlage erklärt. »Ich glaube, Joanna möchte, dass du bei dem Meeting anwesend bist, weil es dein Fachgebiet ist«, sagte sie. Das Team in Manchester arbeitete mit ihnen zusammen und bewarb sich gemeinsam mit ihnen um Mittel für die Untersuchung des von Asylsuchenden gesprochenen Englisch.
»Ich hätte mir gewünscht, ein bisschen früher informiert zu werden«, sagte Gemma, und wie Roz fand, zu Recht. »Ich muss diesen Bericht noch erstellen und habe Detective Inspector Jordan gesagt, dass ich ihn morgen
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