Nachtengel
wissen wollte.«
Er beachtete sie nicht und starrte in die Ferne, die Hände in den Taschen seiner Jeans. »Das ist Quatsch«, wiederholte er, schien aber leicht besorgt. »Wann wurde die E-Mail abgeschickt?«
»Ich weiß nicht. Gestern Abend, glaub ich.«
»Warum sollte sie in Manchester übernachten? Es macht keinen Sinn.«
Roz war überrascht. Darüber hatte sie gar nicht nachgedacht. Sie hatte sich geärgert, dass Gemma nicht angerufen hatte, und dann war sie nicht einmal höflich genug gewesen, der E-Mail am Morgen einen Anruf folgen zu lassen. Aber Roz hatte angenommen, dass sie bei dem Chaos von Werkstätten, Reparatur und den anderen Aktivitäten, die bei einer Panne nötig werden, nicht dazu gekommen war. »Wie meinst du das?«, fragte sie.
»Warum ist sie nicht mit dem Zug zurückgekommen? Sie wusste doch, dass das Meeting wichtig ist.«
Roz dachte darüber nach. Es schien trotzdem kein Thema, auf das man viel Zeit verwenden sollte. Es war ein bisschen seltsam, aber Gemma würde alles klarstellen, wenn sie zurückkam. »Vielleicht hat sie es nicht zum Bahnhof geschafft«, sagte sie.
»Das meine ich ja. Wenn sie es nicht zum Bahnhof geschafft hat, dann muss sie schon auf dem Rückweg gewesen sein, als sie die Panne hatte. Dann hätte sie auch kein Hotel finden können. Aber sie ist doch im Automobilklub. Sie hätten sie zurückgebracht, wenn die Sache mit dem Auto zu schlimm war, um es gleich zu reparieren. Warum sollte sie Geld für ein Hotel ausgeben, wenn sie noch in Manchester war? Man nimmt einen Zug, kommt rechtzeitig zum Meeting an, fährt danach wieder hoch und holt das Auto. Ganz einfach.«
Wenn sie es so betrachtete, schien es schon merkwürdig. »Ich glaube …«, sagte sie, als die Tür aufflog und Joanna dastand. Sie sah sie an, und Roz konnte sich das Bild in ihrem Kopf vorstellen: Sie und Luke lehnten sich gemütlich Kaffee trinkend an die Schreibtische und unterhielten sich. Sie bekam ein schlechtes Gewissen und ärgerte sich zugleich über sich selbst, weswegen sie den Impuls unterdrückte, ihre Tasse abzustellen und alles zu erklären. »Gibt es ein Problem?«, fragte sie. Joanna runzelte die Stirn.
Aber als sie Roz ansah, entspannte sich ihr Gesicht. »Nein«, sagte sie. Dann wandte sie sich an Luke. »Die Barnsley-Analyse. Ich sagte, ich würde den Bericht heute brauchen.« Und du stehst hier herum, verschwendest Zeit, trinkst Kaffee und tratschst.
Luke hielt ihrem Blick eine Minute stand, und als die Stille peinlich wurde und Roz den Drang verspürte, das Schweigen zu brechen, sagte er endlich: »Er ist auf deinem Schreibtisch. Ich hab ihn gestern Abend hingelegt.« Er lächelte. »Nachdem du weg warst«, fügte er hinzu.
Kaum merklich zögert Joanna. »Wirf die Sachen nicht einfach auf meinen Tisch. Leg sie zu den Eingängen«, sagte sie und warf einen kritischen Blick auf die Kaffeekanne, die Tassen und das Durcheinander auf den Schreibtischen. Roz sah schnell zu Luke hin und war überrascht, Belustigung in seinen Augen zu erkennen.
Joanna hatte offensichtlich beschlossen, es so stehen zu lassen, solange sie vorn lag, und wandte sich an Roz: »Ich gehe jetzt zu Cauldwell.« Plötzlich schien sie erfreut. »In einer halben Stunde werde ich wahrscheinlich zurück sein. Wir müssen über die neuen Stellen reden. Ich würde gern dieses Wochenende mit der Planung anfangen.«
Roz sah auf ihre Uhr. »Ich habe in fünf Minuten Vorlesung«, sagte sie. »Danach komme ich in dein Büro. Um drei?« Dann würde sie genug Zeit haben, um essen zu gehen.
Joanna überlegte. »Halb drei«, sagte sie. »Wir haben allerhand durchzugehen.«
Ihr Mittagessen hatte sich also erledigt. Luke hatte sich wieder dem Computer zugewandt. Roz beachtete sein Grinsen nicht, sagte »Okay« und ging hinter Joanna aus dem Büro. Als sie ihre Notizen für die Vorlesung herauszog, fiel ihr ein, dass sie wegen Gemma zu keinem Ergebnis gekommen waren.
Die Vorlesungen, die Roz für die ersten Semester hielt, waren beliebt. Sie gehörten zu den obligatorischen Linguistikkursen für Studenten, die im ersten oder zweiten Jahr englische Literatur belegten. Alles, was das Wort forensisch enthielt, erregte die Wissbegier der Studenten, und Roz versuchte, ihnen viele Beispiele für die Anwendung der Theorie zu geben, mit deren Aneignung sie sich abmühten. Ihre Arbeit hatte viel mit der individuellen Beschaffenheit der menschlichen Stimme zu tun, jede charakteristisch, einzigartig. Aber sie konzentrierte sich auf die
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