Nachtengel
aber später. Die Leute von der Einwanderungsbehörde kommen heute Vormittag.« Er ging ins Einsatzzentrum zurück und murmelte im Weggehen: »Bishops, Angels – es ist nicht zum Aushalten.«
Damit musste sich Lynne zufrieden geben. Wenigstens würde Nasim wegen der laufenden Ermittlung fürs Erste hier behalten werden. Die Einwanderungsbehörde würde sie nicht in Gewahrsam nehmen und in eine ihrer Anstalten stecken können. Und sie musste sowieso noch etwas erledigen. Als sie Roz Bishops Nachricht abhörte, hatte sich etwas in ihrer Erinnerung geregt, etwas, das sie gesehen, aber nicht bewusst wahrgenommen hatte. Sie sah noch einmal die Post durch, aber es gab nichts, das zu ihrem Gefühl passte, etwas übersehen zu haben.
Sie musste sich mit einem Experten über diese Sache unterhalten. Roz Bishop war nicht da, aber es gab jemand anderen, der vielleicht verfügbar war. Sie hatte Glück mit Bill Greenhough. Er zeigte sofort Interesse. »›Ket‹? Das erklärt, wieso ich es nicht erkannte. Ketisch! Und Gemma Wishart hat es herausgefunden? Ich bin beeindruckt.« Lynne hörte Papier rascheln, Seiten wurden umgeblättert. »Ja. Ich hab's. Es nennt sich auch Jenissei-Ostyak. Der Name wird aber jetzt nicht mehr oft verwendet.« Jenissei-Ostyak. JO. Die Notizen auf der Niederschrift wurden verständlich. Aber warum war Gemma Wishart so aufgeregt gewesen? Nur weil es eine linguistische Rarität war? Sie hatte an den Rand geschrieben überprüfen! und war dann in Holbrooks Archiv gegangen. Sie werden sich an das Band erinnern, das ich … Wollte sie die Bruchstücke dieser Sprache mit einem anderen Sprecher vergleichen …? Lynne erinnerte sich an die wissenschaftlichen Notizen in den Heften.
»Haben Sie die Sachen bekommen, die ich Ihnen geschickt habe, aus Gemmas Material?«, fragte sie.
»Ja, ich sehe sie mir gerade an. Genau. Hier ist es. In Dudinka hat sie aufgeschrieben … lassen Sie mich sehen …« Er las vor: »›Weiblich, achtzehn, Russisch, Ketisch, Englisch (Grundkenntnisse).‹ Sie kannte eine Achtzehnjährige, die Russisch und Ketisch sprach und etwas Englisch.«
»Ist das ungewöhnlich?«, fragte Lynne.
»Die meisten ketisch sprechenden Leute sind wohl zweisprachig. Aber die Sache ist, dass es nur noch wenige gibt, fünfhundert bis höchstens zweitausend. Ketisch ist wirklich eine Rarität. Eine isolierte Sprache, die mit keiner anderen Sprache verwandt ist, außer möglicherweise mit einem der Idiome der amerikanischen Ureinwohner. Eine Sprecherin von Ketisch. Und jemanden zu finden, der auch Englisch spricht … Das ist einzigartig, würde ich denken.«
Einzigartig. Und Katja sprach anscheinend Russisch, Ketisch und etwas Englisch. Genug, um sich verständlich zu machen. Der Pathologe hatte Katja auf achtzehn, neunzehn oder Anfang zwanzig geschätzt. Gemma Wishart sagte, Katja käme aus Nordost-Sibirien. Das Heft mit wissenschaftlichen Aufzeichnungen bezog sich auf Gemmas Arbeit in Dudinka, der Hafenstadt an der Mündung des Jenissei in die Karasee. »Danke, Dr. Greenhough«, sagte Lynne. »Ich melde mich wieder bei Ihnen, wenn ich noch etwas brauche.«
Lynne hatte bereits aufgelegt, als er sagte: »Ich würde wirklich gern …« Sie ging ins Einsatzzentrum zurück, wo Gemma Wisharts Hefte aufbewahrt wurden, und suchte, bis sie das fand, in dem es um Dudinka ging. Dann blätterte sie darin. Hier! Im Juli 1999 hatte Gemma Wishart ein Gespräch mit Oksana Ilbekow, einer achtzehnjährigen Studentin vom Pädagogischen Institut in Nowosibirsk, geführt. Sie studierte Linguistik. Gemmas Notizen waren exakt und hielten jedes Detail fest. Oksanas Herkunft war interessant. Ihre Mutter war Ketin und stammte aus dem Jenissei-Tal in Zentralsibirien. Ihr Vater war ein russischer Fischer aus Dudinka. Ihre Mutter starb, als sie noch ein Kind war. Als sie dreizehn oder vierzehn war, kam ihr Vater bei einem Unfall auf See um, und sie lebte dann bei der Familie ihrer Mutter. Während ihres Studiums lernte sie Englisch und plante, eine gewisse Zeit in England zu verbringen, um ihre Sprachkenntnisse zu verbessern.
Angenommen … Lynne wusste, wie gefährlich Vermutungen sein konnten, aber ihre Informationsquelle war versiegt, und sie sollte heute Nachmittag Holbrook holen lassen. Sie musste genug wissen, um ihn festzunehmen oder ihn nach der Vernehmung aus dem Kreis der Verdächtigen auszuschließen. Gemma Wishart hatte Marcus Holbrook gekannt. Holbrook brachte Studenten ins Land. Nehmen wir an, sie hätte
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