Nachtengel
behandelt. So hatte sie es jedenfalls empfunden. Aber tatsächlich hatte er sie die ganze Zeit hingehalten. Nachdem sie ihm Einblick in ihre Arbeit gewährt und ihn in ihr Bett eingeladen hatte, hatte er sie ausgenutzt. Schöne Bescherung, Lynne.
Sie hatte frei, konnte sich aber nicht entspannen. Freie Tage waren zum Einkaufen da, um zu lesen und Freunde zu treffen, für Spaziergänge an den niedrigen Klippen der Ostküste. Aber ihr fiel nichts ein, worauf sie Lust hatte. Sie war zu unruhig, und ihre Gedanken kreisten immer wieder um die Probleme Nasim Rafiq, Katja und Anna Krleza. Schließlich schaltete sie den Computer an und suchte erneut nach der verlorenen Internetseite, ein aussichtsloses Unterfangen, aber eines, das ihr die Illusion gab, etwas zu tun. Doch die Gesichter der Frauen, die sie anschauten, verschmolzen alle zu einem einzigen – dem zerschlagenen Gesicht von Gemma Wishart. Die Körper wurden alle zu Katjas schlanker Gestalt, die das Krankenhaus verließ, eine kleine anonyme Person, die in die Nacht hinaus und ihrem Mörder in die Arme lief. Nasims dunkle Augen sahen sie anklagend an, und hinter Nasim blickte ihr ein kleiner Junge entgegen, der unbekannte Javid.
Sie sah Roy Farnhams Gesicht vor sich, der ihr zuhörte und ruhig und konzentriert nickte, immer nahm er nur und gab nichts zurück. Farnham, du Scheißkerl, so hättest du das nicht machen dürfen! Eine weitere Website erschien auf dem Bildschirm, schwarzer Hintergrund mit roter Schrift, wieder ein nackter Körper und die Warnung, es gehe um Material für Benutzer über achtzehn Jahre. Sie konnte es nicht mehr sehen. Sie musste etwas tun. Sie presste ihre Fäuste gegen die Augen und versuchte, ihre Gedanken zu zwingen, den rastlosen Teufelskreis zu verlassen und einen produktiveren Weg einzuschlagen.
Es brachte nichts, wütend zu sein. Farnham hatte richtig gehandelt. Es gab eine Zeugin, die verschwunden war, es gab jemanden, der vielleicht wusste, wo diese Zeugin war, der sie vielleicht versteckt hatte, es gab Beweise für ein Verbrechen. Sie selbst war diejenige, die Schuld hatte. Sie hätte Nasim unter Druck setzen müssen, bis sie erzählte, was sie wusste. Farnham hatte sie gewarnt: »Du bist doch keine Sozialarbeiterin.« Sie hatte sich darüber geärgert, weil sie es herablassend fand. Aber er hatte Recht gehabt. Sie hatte Nasim als Informantin haben wollen, dabei aber die Situation der Frau mit allzu viel Mitgefühl betrachtet. Dann hatte sie sie schutzlos zurückgelassen, und Farnham hatte sie sich geschnappt.
Aber Nasim war immer noch ihre Zeugin für das, was Katja zuletzt getan hatte. Nasim und Matthew Pearse. Matthew Pearse. Er hatte sich vor vierundzwanzig Stunden auf die Suche nach Anna Krleza gemacht und war immer noch nicht zurück. Er hatte sich auf ein Spiel mit sehr gefährlichen Leuten eingelassen, und Krleza ebenso. Vielleicht waren sie untergetaucht. Sie könnten einen Ort kennen, wo sie sich verstecken konnten.
Und Nasim würde mit ihr zusammenarbeiten. Sie konnte im Rahmen ihrer Vernehmung mit ihr sprechen und ihr zu verstehen geben, dass Anna Krleza aus Unwissenheit oder Angst versteckt wurde. Und dass sie, Lynne, diese Sicht der Dinge unterstützen würde, wenn Nasim ihr noch etwas sagen konnte. Wenn Nasim ihnen den Weg zu Pearse und Krleza zeigte, würde Farnham vielleicht bereit sein, sie nur als Zeugin zu behandeln und nicht als jemanden, der die Ermittlung behinderte.
Also gut, sie musste schnell handeln. Farnham hielt Rafiq noch in Haft, weil sie eine illegale Asylantin versteckt hatte. Lynne war ziemlich sicher, dass Nasim nicht wusste, wo sich Matthew Pearse aufhielt, aber sie hatte vielleicht nebenbei etwas aufgeschnappt, denn sie arbeitete mit dem Mann zusammen. Lynne musste mit ihr sprechen.
19
Sheffield, Montagvormittag
Es war kurz nach acht, als Roz aufwachte. Luke lag noch schlafend neben ihr. Trotz der zwei chaotischen Tage, die sie hinter sich hatte, fühlte sie sich entspannt und ausgeruht. Das Radio spielte leise. Sie streckte sich, Luke begann sich zu regen und zog sie zu sich heran, als sei der Schlaf nur eine kurze Unterbrechung ihrer Begegnung in der Nacht.
Später stand sie gähnend beim Wasserkocher und sah aus dem Küchenfenster. Ein Tiefdruckgebiet lag über der Stadt, und der Himmel war stumpf und bleiern. Sie machte Kaffee, legte Brot in den Toaster und schaute auf die graue Decke hinaus, die den Himmel zu verhüllen schien. In den Bergen würden die Wolken niedrig hängen.
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