Nachtengel
Schultern. Sie konnte sich nicht genau erinnern, wann er gegangen war. Ihr Kopf schmerzte, und ihre Gedanken waren wirr. Sie kam mühsam auf die Beine. Der Raum schien schrecklich eng. Wie spät war es? War Matthew zurück? Ihre Beine waren schwach und zitterten, und sie wusste, dass das Fieber wiederkommen würde. Sie ging den kurzen Gang entlang und machte vorsichtig und leise die Tür auf. Eigentlich musste es dunkel sein. Das wenige Tageslicht war verschwunden, aber eine blasse, flackernde Helligkeit herrschte in dem kirchenähnlichen Raum und erleuchtete den Gang zwischen den Säulen. Sie ging diesen Mittelgang hinunter auf den Steintisch zu, der in der Dunkelheit schwach glänzte. Und jetzt waren mehr Lichter da, flackernde Punkte, den Gang entlang und in den Nischen zu beiden Seiten der Tür. Aber jenseits der Lichter behielt das Dunkel seine Geheimnisse für sich.
Langsam ging sie auf den Tisch zu. Ihre Füße bewegten sich merkwürdig schleppend und schwer, als halte die Finsternis sie zurück. Die steinerne Oberfläche glänzte, der Holzrahmen darüber warf einen Schatten auf den Boden, der wie ein Kreuz unter ihren Füßen lag. Aber auf dem Tisch zwischen den Schatten stand ein langstieliger Becher im tanzenden Licht und davor ein silberner Teller.
Anna ging näher hin. Ihre Füße schlurften über die Steinplatten. Der Becher war voll bis zum Rand. Die Lichter spiegelten sich darin. Noch ein Schritt, dann stand sie vor dem Tisch. Sie streckte die Hand aus und strich mit den Fingern darüber. Brot. Sie hatte seit dem Abend zuvor nichts mehr gegessen, spürte aber einen merkwürdigen Widerwillen, das Brot zu berühren, das auf dem Tisch lag. Sie hob den Becher, und der Duft stieg ihr in die Nase. Wein. Er hatte ihr Wein gebracht.
»Wo bist du?« Ihre Stimme war ein Flüstern in dem leeren Raum. Sie drehte sich um, sah aber hinter sich nur dunkle Schatten. Und die Stille schien zu atmen wie das Seufzen aus einem übel riechenden Mund, wie ein Hauch von Verwesung. Sie kroch durch den Wald und horchte auf das Tropfen des Wassers, atmete im kalten Rauch den Geruch nach Schlachthaus ein, inmitten der Blumen und Bäume im Frühling und unter der Sonne, die durch die Zweige blitzte.
»Matthew«, das Wort blieb ihr fast in der trockenen Kehle stecken. Und wie die Antwort auf ein Gebet war er da und sprach, und sie wusste, dass sie gegen einen Fiebertraum ankämpfte, denn die Worte, die er sprach, waren unverständlich.
Introibo ad altare Dei …
Es war schon fast sechs, als Lynne Nasim Rafiqs Befragung beendete. Sie versuchte, Farnham zu erreichen und ihm die Information über Pearses Alibi zu geben, aber er war nicht in seinem Büro und ging auch beim Mobiltelefon nicht dran. Schließlich hinterließ sie eine Nachricht und wollte dann Rafiqs Buch suchen. Sie musste es finden. Die Sachen, die aus dem Zentrum mitgenommen worden waren, lagen bei der Einwanderungsbehörde, aber Farnham hatte eine Liste. Sie las sie sorgfältig durch. Das Buch, das sie in der Schreibtischschublade gefunden hatte, wurde nicht erwähnt. Es musste noch in der Beratungsstelle sein. Sie sah nach, wie spät es war. Sie konnte jetzt hinfahren, es holen und in Sicherheit bringen.
Sie kehrte in ihr Büro zurück und bemerkte den Stoß von Papierkram, der sich schon wieder in ihrer Ablage angesammelt hatte. Das Telefon klingelte. Nach kurzem Zögern nahm sie ab. Es war Michael Balit von der Gruppe der Ehrenamtlichen. »Inspector Jordan«, sagte er gut gelaunt, »ich dachte mir, Sie säßen wahrscheinlich pflichtbewusst bei der Arbeit, als ich zu Hause nur Ihren Anrufbeantworter erreichte.«
»Mr. Balit«, sagte sie kühl. »Was kann ich für Sie tun?«
»Na ja, ich habe ziemlich beunruhigende Neuigkeiten gehört«, sagte er. Aber er klang nicht besonders beunruhigt. Sie antwortete nicht und wartete, bis er zur Sache kam. »Eine meiner Helferinnen, Mrs. Rafiq, ist offenbar verhaftet worden, und ihre Familie ist über mich hergefallen.«
»Es ist nicht meine Ermittlung«, sagte Lynne. Sollte sich doch Farnham darum kümmern. »Aber Mrs. Rafiq hilft uns bei einer Untersuchung, ja.« Sie ließ ihn das verdauen und sagte dann: »Da wir schon miteinander reden, vielleicht können Sie mir bei einer Frage weiterhelfen.«
Am anderen Ende war es still. Er kapierte offensichtlich schnell. »Also gut, Inspector Jordan. Was möchten Sie wissen?«
»Wer hat Matthew Pearse als Leiter der Beratungsstelle eingesetzt?« Sie brauchte jetzt so viele
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