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Nachtengel

Titel: Nachtengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Danuta Reah
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zusätzliche Stunden ohne Trauer gegönnt. Die Schwester musste das, was sie sagte, wiederholen, bevor Roz es begriff. »Er ist aus dem Operationssaal zurück«, sagte die Schwester. »Sein Zustand ist stabil.«
    Luke war in seinem ganzen Leben noch nie ›stabil‹ gewesen. »Wo ist er?«, fragte sie. Auf die Frage nach seinen weiteren Aussichten würde ihr ja sowieso niemand Antwort geben können. »Wo ist er?«, wiederholte sie. Die Schwester sagte, auf der Intensivstation und er müsse bis morgen Früh dort bleiben. »Ich will ihn sehen«, sagte Roz.
    Die Schwester hatte Bedenken, rief aber schließlich dort an, und Roz wurde durch die Korridore zum Aufzug gefahren.
    »Ich kann selbst gehen«, sagte sie.
    »Fahren zweiter Klasse ist besser als erste Klasse zu Fuß«, sagte der Pförtner vergnügt. »Schlagen Sie es nicht aus.« Die Korridore waren lang und dunkel, die Wände und der Boden von den vielen Menschen abgenutzt, die jetzt – mitten in der Nacht –, wenn Kinder auf die Welt kamen und Kranke starben, nicht zu sehen waren.
    Das Licht auf der Intensivstation war gedämpft. In jedem Bett lag eine regungslose Gestalt, von Apparaten, Lampen und Infusionsständern umgeben, die an der vordersten Front des Krankenhauses im Einsatz waren. Sie hörte das Zischen von Beatmungsgeräten und fühlte sich einen Augenblick an Nathans Bett zurückversetzt. Sie horchte auf den Apparat, der für jemanden atmete, und wäre am liebsten weggelaufen. Luke lag in seinem Bett und atmete ohne Hilfsmittel. »Das ist gut«, sagte die Schwester. Auf dem Monitor lief die grüne Linie regelmäßig quer über den Bildschirm. Er hatte einen Kopfverband, aber sie hatten ihm nicht alle Haare abrasiert. Neben dem Verband sah sie seine dunklen Locken, die von Blut und Schmutz verklebt waren. Ein Auge war zugeschwollen, und die eine Gesichtshälfte war vor Quetschungen fast nicht mehr erkennbar, dunkle Blutergüsse zogen sich bis zum Mund und entstellten sein Gesicht.
    »Er sieht schlimm aus«, fuhr die Schwester fort, »aber das meiste ist oberflächlich, Schwellungen und Blutergüsse.« Sie hatte sich als Liz vorgestellt und sorgte offenbar heute Nacht für Luke. Sie kam Roz sehr jung, aber auch sehr besonnen und effizient vor. »Es geht ihm so gut, wie zu erwarten ist«, sagte sie auf Roz' Frage. Aus ihrem Mund klang es nicht wie ein Klischee, sondern wie eine kompetente Beurteilung der Situation.
    »Luke«, sagte sie. Ihre Kehle schnürte sich zusammen, und sie musste schlucken.
    »Er kann Sie wahrscheinlich hören«, sagte Liz. »Aber er kann nicht antworten. Sprechen Sie mit ihm. Das hilft.« Sie zog einen gepolsterten Stuhl ans Bett. »Nehmen Sie den«, sagte sie. »Ich glaube, Luke wird ihn heute Nacht nicht brauchen.«
    Roz nahm seine Hand, beugte sich übers Bett und legte die Arme auf das Kissen neben seinem Kopf. Sie fing an zu reden. Sie sagte sehr wenig über den Abend, nur: »Ich bin in Sicherheit. Er hat mich nicht verletzt.« Und das stimmte so ungefähr. Sie erzählte ihm von Joannas Nachthemd und Morgenmantel. »Mit Etiketten von sündhaft teuren Marken«, sagte sie. »Ich trage einen Designer-Morgenmantel.« Sie sprach zu ihm über ihre Urlaubspläne in einem Haus in den Pyrenäen, von dem ihr Freunde erzählt hatten. Und dass sie sich eine Extra-Belohnung versprochen hatte, wenn die nächste Phase des Projekts beendet war. »Wir könnten zusammen hinfahren«, sagte sie. »Wenn du zwei Wochen Einsamkeit ertragen kannst. Guter Wein, gutes Essen, wunderschöne Wanderwege …« Falls er jemals wieder in der Lage sein würde, zu wandern. Sie berichtete ihm von Joannas Chefecke, der scherzhaften Bezeichnung, von der sie ihm noch nie zuvor erzählt hatte. Das Piepsen des Monitors war das einzige Zeichen, dass er noch am Leben war.
    Liz beugte sich über ihn und leuchtete ihm mit der Taschenlampe in die Augen, um die Reflexe zu prüfen. Wieder ein Déjà-vu-Erlebnis. Roz erinnerte sich daran, wie das Gleiche mit Nathan gemacht wurde und wie alle sagten: »Er wacht aus dem Koma auf, er kommt zu sich«, und erst die plötzliche Erleichterung in ihren Stimmen ließ sie damals begreifen, wie gefährlich seine lange Bewusstlosigkeit gewesen war. Aber Nathan war nie wieder aus der Dunkelheit herausgekommen, jedenfalls nicht der Nathan, den sie kannte. Luke!
    Von der verbrauchten Luft bekam sie Kopfschmerzen, und ihre Kehle war ganz trocken und wund. Sie war müde, fror und fühlte sich durch den Schock unruhig und einsam. In

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