Nachtflügel
sagte er.
»Und was wirst du machen?«
»Ich gehe nicht«, sagte er. »Mein Zuhause ist hier – oder nicht?«
»Du weißt, dass es so ist. Du hast es schließlich für uns gefunden.«
»Sie hat immer wieder gesagt, dass ich einer von ihnen sei, aber ich weiß doch gar nichts über sie. Nur weil ich so aussehe wie sie, heißt das doch nicht unbedingt, dass ich auch zu ihnen gehöre.«
Sylph erwiderte nichts.
»Sie können nie meine Eltern oder meine Schwester sein.«
»Nein«, stimmte Sylph zu.
»Vielleicht denken sie auch gar nicht in der gleichen Weise über die Dinge, wie wir das tun.«
Sylph rümpfte die Nase. »Auch die Chiropter selbst denken ja wohl kaum immer gleich. Denk an Nova und Papa oder sieh dir dich und mich an.«
Es machte ihn traurig, als sie das sagte, aber sie hatte recht. Sie hatten lange über das gesprochen, was bei dem Sauriergelege geschehen war, und Sylph dachte immer noch, die Eier zerstören zu wollen sei das Richtige gewesen. Sie hoffte sogar, dass Reißzahn überlebt und die Arbeit erledigt hatte.
»Gut, wir denken verschieden«, gab Dämmer zu, »doch das ist nicht so entscheidend. Wir bleiben immer Bruder und Schwester, und wir haben ein Bündnis geschlossen, gegenseitig für uns zu sorgen. Ich gehe nirgendwohin.«
»Du möchtest doch gehen«, sagte Sylph einfach.
»Nein.«
»Du möchtest gehen.«
»Willst du, dass ich gehe?«, fragte er voller Verzweiflung.
Schweigend schüttelte sie den Kopf.
»Ich würde gerne gehen«, keuchte er. Das wilde Verlangen, das in seinen Adern brannte, war stärker als seine Gedanken.
»Dann geh und sieh es dir an«, sagte Sylph. »Flieg hin und finde raus, wie sie sind.«
»Ich muss es einfach selbst erleben, wie es ist, bei ihnen zu sein.«
»Und wenn du dir nicht sicher bist, kannst du immer noch zurückkommen.«
»Ich komme zurück«, versprach er.
»Gut«, sagte sie und berührte seine Nase mit der ihren.
Er stand schon an der Astkante, bereit zum Abflug, als er erneut zögerte. Und wenn er sich veränderte, wenn er erst einmal dort war, und alles vergaß, was er zuvor gewesen war? Wenn das Wort Chiropter für ihn eine völlig neue Bedeutung bekam und er dann von »denen« dachte und nicht mehr von »uns«? Wenn er nie wieder zurückkam?
»Ich habe Angst, loszufliegen«, sagte er, woraufhin ihn Sylph energisch vom Ast schubste. Dämmer war so überrascht, dass er ein paar Sekunden fiel, bevor er seine Flügel ausbreitete und wieder aufstieg. Er wendete scharf.
»Du hast mich gestoßen!«, rief er entrüstet.
»Glaub mir«, sagte sie, »niemand will seinen ersten Sprung machen. Hat Papa das nicht immer gesagt?«
Er flatterte einen Moment lang auf der Stelle und schaute sie an. »Danke, Sylph.«
Dann schlug er fester mit den Flügeln, flog zwischen den Ästen hoch hinauf in den dämmernden Himmel.
Kenneth Oppel
© Kenneth Oppel
Der Kanadier Kenneth Oppel (geboren 1967) gilt als literarisches Phänomen. Sein erstes Kinderbuch veröffentlichte er im Alter von 14 Jahren, von Roald Dahl dazu ermutigt. Inzwischen hat Oppel zahlreiche Romane und Drehbücher verfasst. Er lebt mit seiner Familie in Toronto, Kanada. Ebenfalls bei Beltz & Gelberg erschien seine weltweit erfolgreiche Fledermaus-Trilogie Silberflügel , Sonnenflügel und Feuerflügel , sowie die Romane Wolkenpanther und Wolkenpiraten .
Mehr zum Autor und seinen Büchern unter www.kennethoppel.ca
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