Nachtflügel
halten?«
»Ich glaub nicht, dass …«
»Ich will auch etwas Großartiges tun«, schäumte sie. »Du kannst fliegen und bei Nacht sehen und uns alle in die Sicherheit führen, und was habe ich bisher getan? Das hier wird meine große Sache sein!«
»Das ist keine große Sache, Sylph«, beschwor er sie und spürte, wie er zitterte. Denn es kam ihm vor, als ginge es ihr nicht darum, nur die Eier zu zerstören, sondern zugleich auch ihren Vater und alles, woran er geglaubt hatte. »Das hätte Papa nicht gewollt.«
»Er war nicht vollkommen, Dämmer. Zum Schluss war er nicht einmal mehr ein guter Anführer. Er war schwach und hat der Kolonie geschadet. Er hat nicht einmal seine eigenen Kinder schützen können.«
Es gelang ihr, eine Kralle tief in die Schale zu treiben und einen langen Spalt hineinzureißen.
»Sag das nicht, Sylph«, zischte Dämmer und wurde langsam zornig. »Lass das Ei in Ruhe!«
»Wir müssen für uns selber sorgen!«, tobte Sylph und versenkte ihre Krallen noch einmal in die Schale. »Weil das sonst keiner tut. Vor allem jetzt nicht. Die Welt ist ein hässlicher Ort. Die großen Tiere fressen die kleinen, die schlauen übertölpeln die dummen. So ist es doch. Wir müssen sie umbringen, bevor sie uns umbringen! Du möchtest so sehr wie Papa sein, dann tu, was er getan hat. Als es darauf angekommen ist, hat er die Eier getötet!«
»Er hat es bereut!«
»Aber er hat es getan!«
Dämmer musste an all das denken, was er seit dem Blutbad mitgemacht hatte, an all diejenigen, die ihr Leben auf der Suche nach einer neuen Heimat verloren hatten. Würde das alles, was sie geleistet und erlitten hatten, sinnlos sein, wenn die Saurier schlüpften? Er spürte, wie sich Wut und Bitternis in ihm verhärteten wie ein zusätzlicher Knochen. Vielleicht hatte Sylph recht und die Welt war ein hässlicher Ort. Sie war zu ihnen nicht freundlich gewesen, warum sollten sie freundlich zu ihr sein?
Er verstand nun, wie sich sein Vater vor all den vielen Jahren auf der Insel gefühlt haben musste. Im Kampf mit sich selbst. Er wusste, dass alles, an das er geglaubt hatte, richtig war, doch er wusste auch, was ihm am wichtigsten war: sich zu schützen und die Kolonie zu schützen.
»Wir können diese Eier töten«, sagte Dämmer langsam. »Aber vielleicht gibt es noch andere Eier in anderen Nestern. Ich gehe mal davon aus, dass wir auch die töten könnten. Aber wir werden nie vollkommen sicher sein. Was ist mit all den anderen Lebewesen, die uns jagen? Die Feliden, die Hyaenodonten und die Diatrymas? Wir können sie nicht alle umbringen. So etwas wie das Paradies gibt es nicht. Das hat Papa zu uns gesagt. Und du hast es selbst gesagt, Sylph: Die großen Tiere fressen die kleinen und die schlauen übertölpeln die dummen. Alle brauchen etwas zu essen. Ganz egal, wie sehr wir auch versuchen, dagegen anzugehen, irgendwer wird uns immer jagen. Das ist der Lauf der Welt. Das können wir nicht ändern.«
»Wir sehen die Dinge eben ganz verschieden«, erklärte Sylph. »Genau diese Saurier hier vor uns, die können wir aufhalten. Die müssen wir aufhalten.«
Schließlich brach die Schale unter ihren Krallen auf und eine klare Flüssigkeit sickerte heraus. Sylph zuckte erschrocken zurück, wie erschüttert von dem Schaden, den sie angerichtet hatte. Sie fing an zu wimmern. Dann hob sie die Krallen, um weiter die Schale aufzumeißeln, zögerte aber dann.
»Ich weiß nicht, ob ich das wirklich tun kann«, sagte sie mit zitternder Stimme.
Dämmer wollte zu ihr und sie trösten, doch aus den Augenwinkeln nahm er etwas wahr, das ihn erstarren ließ.
»Was ist los?«, fragte Sylph.
»Pst!«
Neben einem der anderen Eier im Nest lagen Schalensplitter. Vorsichtig trat Dämmer näher. Sie waren trocken. Er blickte das Ei, neben dem sie lagen, genau an. Dann kroch er, immer Abstand haltend, um es herum. Die andere Seite des Eis, die sie bisher nicht hatten sehen können, war weit aufgebrochen. Das Ei war leer.
Er hastete zu Sylph zurück. »Eins ist schon geschlüpft!«
»Wo ist es?«, quietschte Sylph.
Dämmer fiel der halb aufgefressene Leichnam des erwachsenen Dinosauriers ein. Futter!
»In der Höhle«, keuchte er. »Es lebt hier in der Höhle.«
Plötzlich stieß eine Schnauze durch den Spalt in Sylphs Ei, kleine, blutgesprenkelte Kiefer schnappten, um mehr Stücke loszubrechen. Dämmer schrie auf und stolperte in seiner Hast, wegzukommen, über seine Schwester. Eine Klaue bohrte sich durch die Schale und bog sich
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