Nachtflügel
schneller ist, der Läufer oder der Flieger?«
Dyaus kniete sich hin und forderte Sylph auf, über seine Schulter auf seinen Rücken zu klettern.
»Vielen, vielen Dank«, sagte sie.
»Vorsicht mit den Krallen«, sagte Dyaus. »Und jetzt festhalten.«
Mit Harf an seiner Seite schoss er durch das Gras. Dämmer hörte, wie Sylph vor Begeisterung aufschrie, und dann flatterte er, so schnell er konnte, hinter den Equiden her. Wofür sie sonst auf dem Boden Stunden gebraucht hätten, dauerte nun nur wenige Minuten und der Giftholzbaum wurde rasch größer. Die Equiden ließen Dämmer hinter sich und erreichten den Baum weit vor ihm. Dämmer schlug noch schneller mit seinen Flügeln und hoffte inbrünstig, dass die Kolonie sicher hier eingetroffen war und noch immer auf sie wartete.
Er zwinkerte den Schweiß aus den Augen und behielt den Baum scharf im Auge. Und schließlich war er nahe genug, um die dunklen Gestalten vieler Chiropter ausmachen zu können, die sich hoch in den Ästen bewegten. Sein Herz machte einen Sprung.
»Da ist er!«, hörte er jemanden schreien. »Ich sehe ihn!«
»Da ist Dämmer!«, rief ein anderer.
»Dämmer und Sylph sind wieder da!«
»Er hat es geschafft!«
»Sie haben es geschafft!«
Und plötzlich war die Luft um den Baum voller gleitender Chiropter, die Willkommensgrüße riefen und Dämmer einen begeisterten Empfang bereiteten, als er zu seiner Kolonie zurückkehrte.
Kapitel 24
Ein neues Zuhause
N och nie war ihm ein Baum so hoch vorgekommen.
Dämmer mühte sich den gewaltigen Stamm nach oben, versenkte sein Krallen in die weiche, rötliche Rinde. Er hätte leicht allen anderen voraus bis zum Wipfel fliegen können, doch das wollte er nicht. Er wollte lieber mit Sylph und Südwind und dem Rest der Kolonie diesen Baum erklettern. Er wollte, dass sie alle gleichzeitig ankamen.
Bei Sonnenuntergang waren sie vom Giftholzbaum aufgebrochen und hatten die ganze Nacht gebraucht, um das Grasland zu überqueren und den Berg hinaufzuklettern, bis sie den Fuß des Baums erreichten. Erschöpft hatten sie den Aufstieg noch bei Dunkelheit begonnen, doch bald hatte das erste Tageslicht die Krone des Baums aufleuchten lassen, war dann den Stamm bis zu ihnen heruntergeglitten, wärmte ihnen nun das Fell und linderte die Schmerzen in ihren Muskeln. Dunst stieg von der glänzenden Rinde auf, und Dämmer spürte, wie seine Erschöpfung verflog.
Vom Stamm aus erstreckten sich mächtige Äste nach allen Seiten, doch Südwind führte sie immer höher. Der Duft von Nadeln und Harz erfüllte die Luft. Insekten glitzerten im Sonnenlicht. Dämmer versenkte seine Krallen, zog sich hoch, versenkte sie wieder. Die Kolonie kletterte schweigend und entschlossen, alle wussten, dass sie sich mit jeder Sekunde ihrem Ziel näherten. Dämmer spürte, wie er seine Bewegungen beschleunigte und dass es die anderen auch taten. Sein schwerer Atem ging in einen einzigen Ton über, als die gesamte Kolonie im gleichen Rhythmus atmete. Endlich rief Südwind zum Halten.
»Hier«, sagte er.
Während sich die Chiropter auf den umliegenden Ästen versammelten, blickte Südwind in den riesigen Baum, der sie umgab, und dann hinaus über das Grasland.
Auch Dämmer schaute. Hier oben, hoch auf dem Abhang zwischen den Ästen ihres neuen Baums schienen sie über allen Gefahren zu schweben. Die Hyaenodonten, die Diatrymas und vielleicht sogar die Dinosaurier durchstreiften die Ebenen, doch sie kamen nicht an seine Kolonie heran. Dämmer wusste, dass kein Zufluchtsort vollkommen war, aber jetzt in diesem Augenblick fühlte er sich sicher und zufrieden. Er fragte sich, ob es seinem Vater ebenso ergangen war, als er die Insel entdeckt hatte.
»Ich kann mir kein besseres Zuhause vorstellen«, sagte Südwind und wandte sich ihm zu. »Ich danke dir, Dämmer.«
Dämmer war erstaunt, wie schnell sich das Leben normalisierte. Innerhalb von wenigen Tagen waren die Ansprüche auf Nest- und Jagdplätze geregelt worden. Die Chiropter pflegten und säuberten sich, glitten und aßen, wie sie es immer getan hatten. Die ersten Neugeborenen, die in den Bäuchen ihrer Mütter mit auf der angsterregenden Reise gewesen waren, wurden geboren.
Doch obwohl der tägliche familiäre Rhythmus der Kolonie wieder aufgenommen worden war, gab es noch viel Traurigkeit und viele Veränderungen. Als Nova und Barat abgezogen waren, hatten sie nicht nur die Kolonie halbiert, sondern in vielen Fällen auch die Freunde, Geschwister und Kinder derer
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