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Nachtflügel

Nachtflügel

Titel: Nachtflügel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kenneth Oppel
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Mistral?«
    »Nein, tut mir leid«, sagte Jibs Mutter zu ihm, und es war das erste Mal seit Langem, dass ihn ein Chiropter, der nicht zu seiner Familie gehörte, mit einer gewissen Zuneigung anblickte. »Es war so dunkel und alles so verwirrend.«
    »Bleib du hier bei Jibs Familie«, sagte Dämmer zu Sylph. »Ich möchte versuchen, sie zu finden.«
    »Bis du sicher?«, fragte sie und wollte immer noch nicht, dass er ging.
    »Ich muss«, sagte er und seine Gefühle schnürten ihm die Kehle zu. Er wollte auch Sylph nicht alleine lassen, doch sie war nun in Sicherheit. Es waren jetzt ein paar Erwachsene bei ihr. Doch er konnte das Bild nicht aus seinem Kopf verbannen, wie der Felid seine Eltern mit wirbelnden Krallen und Zähnen angegriffen hatte. Er musste wissen, wie es ihnen ging.
    Sylph sah ihn an und schien zu verstehen. Jedenfalls nickte sie kurz. »In Ordnung.«
    »Ich komme zurück.«
    Mit Augen und Ohren suchte er die Umgebung ab, bevor er losflog, und flatterte dann vorsichtig zwischen den Ästen hindurch auf den Mammutbaum zu. Er kam an vielen Chiroptern vorbei, die besorgt nach ihren Müttern, Söhnen, Töchtern und Vätern riefen.
    Über ihnen flatternd, fragte er flüsternd: »Habt ihr Ikaron gesehen, Ikaron und Mistral?«
    Die meisten schüttelten den Kopf, einige gaben unbestimmte Antworten, andere beachteten ihn gar nicht, viel zu benommen vor Angst und Sorge, um ihn überhaupt hören oder ihm antworten zu können.
    Als er den Mammutbaum fast erreicht hatte, flog er einen weiten Bogen um ihn herum, denn er wollte sich einen guten Überblick verschaffen, ehe er sich ihm noch mehr näherte. Er war auch bei allen anderen Bäumen, die um die Lichtung standen, auf der Hut, denn auch in ihnen konnten Feliden lauern.
    Er war erschöpft, doch er wollte in der Luft bleiben, auch wenn er auf diesem Weg leichter bemerkt wurde. Die Vorstellung, zu landen und dann zur leichten Beute für einen Feliden zu werden, war zu furchtbar. Er wollte in der Lage sein, sich im Bruchteil einer Sekunde in jede Richtung bewegen zu können.
    Bis auf einen Hauch von Mondlicht war es nun vollständig dunkel und Dämmer flog fast nur mit Echosehen. Die Welt war für ihn ein pulsierendes Silberbild, das sich immer und immer wieder in seinem inneren Auge einprägte.
    Er entschloss sich, das Risiko einzugehen und auf die Lichtung zu fliegen. In ihm brannte das Bedürfnis, seine Eltern zu finden. Selbst wenn ihn die Feliden bemerkten, konnten sie nichts unternehmen, denn er war außerhalb ihrer Reichweite.
    Er flatterte über die Lichtung und hielt dabei zu den Ästen einen großen Abstand. Der Mammutbaum wimmelte nur so von Feliden. Sie schienen überall zu sein. Er fing an zu zählen und war überrascht, dass er nur auf sechsundzwanzig kam. Bestimmt waren es mehr gewesen! Aber vielleicht waren es auch ihre große Gestalt und ihre tödliche Geschwindigkeit, die den Eindruck erweckten, sie wären zahlreicher.
    Sehr schnell merkte er, dass sie mit der Jagd fertig waren. Viele fraßen noch an ihrer Beute und Dämmer konnte gar nicht hinsehen. Andere, die sich bereits satt gefressen hatten, stolzierten träge über die Äste oder lagen irgendwo zusammengerollt und leckten sich das Blut von Pfoten und Maul.
    Sie hatten den Baum übernommen.
    Sie zeigten keinerlei Anzeichen, weiterziehen zu wollen. Einige schienen kurz vor dem Einschlafen zu sein, und ihr erschreckendes Gähnen mit weit aufgerissenem Maul verengte ihre glühenden Augen zu Schlitzen. Sie konnten sich schlafen legen, ohne auch nur eine Sekunde Angst zu haben, und Dämmer hasste sie. Sie hatten getötet. Und nun stahlen sie ihm sein Zuhause.
    Am äußersten Rand des Baums entdeckte Dämmer eine letzte kleine Gruppe von Chiroptern, die einen Ast entlang auf den Wald zuhasteten. Mit dem Echosehen betrachtete er jeden von ihnen genau, konnte aber seine Eltern darunter nicht ausmachen. Ein Felid guckte von oben auf die fliehenden Chiropter hinab und wandte sich dann uninteressiert ab. Sein Bauch war voll und er hatte im Moment kein Interesse an der Jagd.
    Dämmer schraubte sich in der Lichtung höher hinauf, beobachtete die Feliden und lauschte. Ein tiefes, befriedigtes Schnurren stieg aus ihren Kehlen auf und ließ seine Ohren vor Ekel zucken. Auf ihrem Familienast rekelte sich Reißzahn, derjenige, der seinen Vater angegriffen hatte. Dämmer erkannte ihn an seinem scharfkantigen Gesicht. Sein verschwitzter Körper hatte sich über die ganze Länge des Rindenstücks hinweg

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