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Nachtflügel

Nachtflügel

Titel: Nachtflügel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kenneth Oppel
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machte noch einen Schritt, hätte beinahe das Gleichgewicht verloren und hielt an. Er atmete schwer. Der Ast schwankte gefährlich.
    Dämmer konnte den gierigen Atem riechen, schwer und widerlich nach Fleisch. Er hatte heute schon gefressen. Plötzlich hatte Dämmer Angst, der Felid würde ihn ansprechen. Er wollte die schreckliche knurrende Stimme nicht hören.
    Der Felid machte einen Schritt nach hinten, und Dämmer hoffte schon, er würde aufgeben. Doch dann versenkte der Feind seine Klauen noch tiefer in die Rinde, stellte sich auf, kauerte sich hin, stellte sich, kauerte und ließ dadurch den Ast hinauf und hinunter schwanken, immer schneller, bis er auf und nieder peitschte.
    »Haltet euch fest!«, schrie Sylph.
    Der Felid versuchte, sie vom Ast zu schütteln! Dämmer musste sich sehr festkrallen, um nicht in die Luft geschleudert zu werden. Die nächtliche Welt verschwamm auf schwindelerregende Weise. Wie lange würde der Felid damit noch weitermachen?
    »Sylph?«, fragte er mit stockender Stimme. »Geht’s noch?«
    Sie grunzte nur leise. Um etwas zu sagen, war sie zu verschreckt.
    »Lass auf gar keinen Fall los«, sagte er ihr.
    Auf und nieder peitschte der Ast. Es war so furchtbar, machte einen so wahnsinnig, dass ein Teil von Dämmer loslassen und fliegen wollte. Er hoffte nur, dass die anderen nicht dieselbe tödliche Versuchung empfanden.
    Der Ast wurde langsamer. Mit noch immer verschwommenem Blick schaute Dämmer zu dem Feliden. Der keuchte schwer, trockener Speichel hatte sich in den Winkeln seines Mauls verklumpt. Aus tiefster Kehle stieß er einen Schrei der Enttäuschung aus, der Dämmer nahezu vom Ast gestoßen hätte.
    »Sehr schlau«, sagte der Felid mit einem tiefen Knurren. »Aber ich komme wieder.«
    Dann sprang er die Äste nach unten und schlich auf der Suche nach leichterer Beute auf den Mammutbaum zu.
    Eine ganze Weile lang sagte niemand etwas. Dämmer setzte seine Krallen auf der Rinde um und horchte auf seinen allmählich langsamer werdenden Herzschlag.
    »Ich hab gedacht, der hört nie auf«, sagte er mit trockenem Mund.
    »Wäre für dich doch egal gewesen«, murmelte Jib. »Du hättest einfach wegfliegen können.«
    »Ist er aber nicht, oder?«, sagte Sylph.
    Dämmer sagte nichts und dachte nur schuldbewusst an den kurzen Moment, als sein Körper tatsächlich losfliegen wollte.
    »Und der dünne Ast war auch seine Idee«, sagte Sylph heftig. »Er hat euch das Leben gerettet.«
    »Das war nur Glück«, sagte Dämmer. »Ich war mir nicht sicher, ob das überhaupt funktioniert.«
    »Wirklich?«, fragte Sylph bestürzt.
    »Na ja, ich war mir schon ziemlich sicher, aber woher soll ich wissen, wie schwer so ein Felid ist?«
    Geschockt schwieg Sylph eine Weile. Dann sagte sie: »Aber es hat funktioniert. Und das ist schließlich das Wichtigste.«
    »Wie viele von denen sind denn da?«, fragte Jib.
    Dämmer schüttelte den Kopf. »Ich glaub, niemand hat die Zeit gehabt, sie zu zählen.«
    »Es sieht so aus, als wären das Hunderte«, flüsterte einer der Neugeborenen.
    »Sie haben Licht in den Augen«, sagte Sylph.
    »Sie können nachts jagen«, meinte Dämmer. »Sie sehen besser als wir.«
    Dann schwiegen sie wieder. Dämmer suchte die Bäume mit Schall ab und konnte immer mehr Gruppen von Chiroptern sehen, die vom Mammutbaum aus gleitend und rennend tiefer in den Wald hineinströmten. Doch diesmal entdeckte er keine Feliden, die sie verfolgten. Er lauschte, konnte aber kaum noch Schreien oder Knurren vernehmen. Sollte es wirklich vorbei sein?
    »Jetzt ist es ruhiger«, sagte er. »Ich geh los und suche Mama und Papa.«
    »Geh nicht«, sagte Sylph und noch nie hatte er einen so flehenden Ton bei ihr gehört. »Wir können ohne dich nicht sehen.«
    Er bemerkte, dass ihn auch die anderen Neugeborenen, einschließlich Jib, mit inständig bittenden Augen anblickten, doch sie waren zu stolz, ihn zum Bleiben zu bewegen.
    Voller Unruhe wartete er mit ihnen ab, bis eine große Gruppe von Chiroptern vorbeiglitt, von denen einer beständig Jibs Namen flüsterte.
    »Ich bin hier! Ich bin hier!«, rief Jib fast schon zu laut.
    Dämmer blickte zu ihm hin und sah nun keinen unausstehlichen Rüpel vor sich, sondern einen verschreckten Neugeborenen, der überglücklich war, die Stimme seiner Mutter zu hören. Wonach er sich selbst ja auch so sehnte.
    Jibs Eltern landeten auf dem Ast und konnten sich kaum beruhigen, ihren Sohn gefunden zu haben.
    »Habt ihr Ikaron gesehen?«, fragte Dämmer. »Und

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