Nachtflügel
Eltern zu finden. Viele hatten Glück, zu viele hatten keines. Es gab ein paar Namen, die Dämmer immer und immer wieder hörte, bis es schon fast zu einer Art Folter wurde, sie immer wieder zu vernehmen, und er presste seinen Kopf an die Rinde, um die Rufe abzublocken. Alles, woran er denken konnte, war seine eigene Mutter und dass er nie wieder hören würde, wie sie ihren Antwortschrei ausstieß.
Sylph und er kuschelten sich wimmernd und zitternd aneinander und starrten ins Leere. Ihr Vater war nicht bei ihnen. Er war der Anführer, und trotz seiner eigenen Trauer musste er die anderen Familien trösten und beruhigen. Dämmer hatte immer noch schreckliche Mühe zu begreifen, dass seine Mutter wirklich tot war. Es gab kurze Augenblicke, in denen er es vergaß und es ihm völlig unwahrscheinlich vorkam, und dann musste er sich selbst sagen, dass es wirklich passiert war, und die Trauer drohte ihn erneut zu ersticken.
»Sie hatte das Echosehen wie ich«, murmelte er. »Sie musste doch gesehen haben, wie sie kamen. Sie müsste doch eine von den Überlebenden sein.«
Doch sie hatte Papa geholfen und dann hatte Reißzahn sie gepackt. Papa hatte gekämpft, um sie freizubekommen, doch das hatte nichts geholfen. So hatte ihnen das ihr Vater vorhin erzählt.
»Ich wollte, er wäre an ihrer Stelle gestorben«, sagte Sylph fast unhörbar.
»Sylph!«, sagte er bestürzt.
»Es war sein Fehler. Das ist nun mal so, Dämmer, und du weißt es auch. Du hast ihm erzählt, was Teryx gesagt hat. Er hätte alle warnen sollen. Dann wären wir vorbereitet gewesen. Mama würde vielleicht noch leben.«
Zu denken, Mama wäre jetzt bei ihm, war mehr, als er ertragen konnte, und er fing wieder an zu weinen.
»Papa hätte das nicht für sich behalten dürfen.« Sylph kochte vor Wut. »Wenn die Ältesten wüssten …«
»Du darfst ihnen das nicht erzählen«, sagte er.
»Warum nicht?« Sie klang gefährlich.
»Du weißt, warum. Sie könnten Papa die Schuld geben. Sie könnten sogar versuchen, ihn zu stürzen.«
»Vielleicht wäre das gar nicht so schlecht.«
Er wusste, dass sie das nicht so meinte, und fand, es wäre am sichersten, nicht zu antworten. Er wollte ihre Wut nicht noch schüren. Außerdem merkte er, dass er der Meinung seiner Schwester zuneigte, und das erschreckte ihn.
»Papa ist ganz schön schlimm verwundet«, sagte er.
Er hätte so gerne gehabt, das Sylph irgendetwas Beruhigendes sagte, dass ihr Vater stark sei und die Wunden bald heilen würden, doch sie schwieg.
Der Mond war untergegangen, die Wolken hatten sich geteilt und ließen so ein bisschen Sternenlicht auf die Äste scheinen. Dämmer sah, wie sein Bruder Südwind nach unten auf Sylph und ihn zugeglitten kam.
Er landete und berührte sie beide liebevoll.
»Geht es euch gut?«, fragte er.
Das schien eine ziemlich unsinnige Frage zu sein. Wie konnte es ihnen gut gehen? Doch Dämmer nickte, dankbar für dieses Zeichen von Freundlichkeit.
»Für euch beide ist es am schlimmsten«, sagte Südwind. »Aber das wird schon.«
»Wird unser Vater wieder gesund?«, fragte Dämmer.
»Natürlich. Es gibt niemand Stärkeren.«
Nicht viel später kam ihr Vater mit den drei Ältesten zu ihrem Ast zurück. Sie ließen sich ein Stück weit entfernt nieder und sprachen mit gedämpften Stimmen, doch Dämmer konnte trotzdem mithören.
»Im Augenblick sind wir in Sicherheit« sagte sein Vater. »Die Feliden können in der Dämmerung hervorragend sehen, doch normalerweise sind sie keine Nachtjäger. Der Vollmond hat ihren Angriff möglich gemacht. Aber tagsüber jagen sie auch nicht.« Er machte eine Pause. »Wir müsssen also vor dem nächsten Sonnenuntergang hier weg sein.«
Dämmer blickte Sylph schockiert an. Weg? Wohin?
»Du schlägst also vor, dass wir die Insel verlassen sollen?«, sagte Nova.
»Nach dem Gemetzel ist mein Sohn durch die Lichtung geflogen«, sagte Ikaron. »Die Feliden haben sich in unserem Baum niedergelassen. Dämmer hat ein Gespräch mit angehört. Sie planen, auf der Insel zu bleiben und sich von uns zu ernähren, bis wir alle tot sind.«
Nach dieser verheerenden Information herrschte erst einmal Stille.
»Aber das ist unsere Heimat«, sagte Sol völlig niedergeschlagen.
»Solange wir hier sind, jagen sie uns«, sagte Ikaron. »In der Abenddämmerung werden sie wiederkommen. Und auch am Abend danach. Heute haben wir achtunddreißig verloren. Wie viel mehr bist du bereit zu verlieren? Wollt ihr eure Gefährten, eure eigenen Kinder
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