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Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren

Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren

Titel: Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison Sinclair
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Gliedmaßen und einem runden, weichen Bauch. Seine Gesichtszüge machten ebenfalls einen ganz normalen Eindruck, obwohl er die Augen, was für ein Neugeborenes ungewöhnlich war, weit geöffnet hatte. Balthasar fragte sich, ob sie ihm wohl deswegen so groß vorkamen. Über den Säugling hinweg griff er nach einer weichen Windel, und als er sie nur knapp über dessen Kopf zu sich heranholte, blinzelte das Baby.
    Später dachte er darüber nach, wie leicht ihm das hätte entgehen können. Nur ein paar Sekunden später hätten ihn die ersten Schreie des zweiten Zwillings – ebenfalls ein Junge – abgelenkt. Es hätte auch genauso gut sein können, dass er von vornherein keinen Ultraschall benutzt hätte. Oder er hätte es bemerkt haben können, ohne dem besondere Beachtung beizumessen und sich irgendwelche Gedanken darüber zu machen. Allerdings waren ihm dazu wohl die Sinne und Reflexe der Lichtgeborenen zu vertraut, und außerdem hatte er ja Tercelles seltsame Geschichte gehört.
    Er schnippte dicht vor den weit geöffneten Augen des Säuglings mit den Fingern – das Baby erschrak und blinzelte wieder. Er konnte keinen Ultraschallruf des Säuglings wahrnehmen, was allerdings nicht ungewöhnlich war, da es nach der Geburt meist mehrere Wochen dauerte, bis sich diese Fähigkeit entwickelte. In jungen Jahren hatten Balthasar und Floria viele Stunden mit dem Versuch verbracht, einander diejenigen Sinne zu erklären, die sie nicht gemeinsam hatten. Für sie war die Vorstellung, sich allein durch den Widerhall unsichtbarer Laute ein Bild von der Welt zu machen – so funktionierte nach dem Verständnis der Nachtgeborenen ihre einzigartige Gabe –, genauso unbegreiflich, wie für ihn eine Welt unvorstellbar war, deren Bild durch Licht entstand. Die Akustik war für die Nachtgeborenen eine elementare Wissenschaft, die Optik dagegen nur von sekundärem Interesse, und so würde es auch immer bleiben. Balthasar konnte sich Farben eigentlich kaum vorstellen, ebenso wenig wie Transparenz oder das Zustandekommen von Reflexionen auf Glas oder Wasseroberflächen. Floria hatte förmlich darum gekämpft, ihm zu erklären, dass es einen Horizont gab, einen Himmel, Sterne, denn Balthasars unmittelbare Wahrnehmung reichte nur so weit wie die Ultraschalllaute, die er zur Sondierung ausstieß – und das bedeutete im höchsten Fall von einer Straßenecke bis zur nächsten.
    »Balthasar«, sagte Olivede mit einiger Entrüstung, »ich habe dich gebeten, mir zu helfen, und nicht mit dem Baby Backe-backe-Kuchen zu spielen, und ich kann nur hoffen, du hast nicht vergessen, wie schnell so ein Säugling auskühlt.«
    Er wickelte den ersten Zwilling warm ein und legte ihn zurück in die Wiege, in die Olivede inzwischen das zweite Baby gepackt hatte, um sich weiter um die erschöpfte Mutter kümmern zu können. Der zweite Säugling war noch etwas kleiner als sein Bruder und hatte einen angespannt ängstlichen Ausdruck auf dem winzigen Gesicht, das nicht größer zu sein schien als eine Trockenpflaume und fast genauso schrumpelig. Balthasar summte ihm leise etwas vor, während er ihn trocken rieb, einwickelte und behutsam mit seinem Ultraschall abtastete. Als der Säugling sich endlich entspannte, machte er die Augen weit auf und richtete seinen Blick auf Balthasar. Dieser zögerte kurz und hielt dem Baby dann plötzlich eine Hand vor die Augen. Das Kind erschrak, zuckte zusammen und fing an zu schreien. Balthasar nahm es sofort auf den Arm und murmelte ein paar Entschuldigungen. Er nahm den Jungen mit ans Kaminfeuer, das sich für seine Ultraschallsinne als ein diffuser Schimmer turbulenter Echos abzeichnete und dessen Hitze er natürlich auch auf der Haut spürte. Feuer, das wusste er, war außerdem eine Lichtquelle, obwohl das Licht eines Feuers weder ausreichte, um einen Lichtgeborenen am Leben zu halten noch einen Nachtgeborenen zu verbrennen. Er hockte sich hin, nahm einen Kienspan aus dem Anmachholz und hielt ihn in die Flammen. Dann drehte er sich mit dem Rücken zum Feuer und hielt den Kienspan so weit weg, dass dessen Hitze nicht mehr zu spüren war. Das Baby zeigte keinerlei Reaktion und hielt seine ungewöhnlich großen Augen weiterhin auf Balthasar gerichtet. Dann hob Balthasar den Kienspan ganz langsam an und peilte ein Zucken im Gesicht des Jungen, so als hätten sich dessen Augen bewegt. Doch er wagte es nicht, tief genug zu sondieren, um die Bewegungen der Muskeln hinter der zarten, dünnen Babyhaut eindeutig erkennen zu

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