Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren
Schlafzimmer seiner Eltern, das er seit deren Tod vor sechs Jahren immer gut gelüftet hatte. Darin stand ein großes Himmelbett – es war dasselbe Bett, in dem er, sein Bruder und seine Schwester empfangen und geboren worden waren, das Bett, in dem seine Eltern innerhalb weniger Wochen einander folgend gestorben waren.
Da Tercelle nichts weiter mitgebracht hatte, gab er ihr ein Nachthemd seiner Mutter. Außerdem brachte er ihr einen Krug Wasser, ein Glas und eine Schale und sagte, er würde die Tür nur anlehnen, sodass sie ihn nötigenfalls rufen könne.
Dann ging er leise die Treppe hinauf zu seinem Arbeitszimmer im Obergeschoss. Sobald er die Tür geöffnet hatte, wusste er, dass Floria Weiße Hand in ihrem salle war. Er hörte, wie sie hinter der Wand leichtfüßig ihr einsames Training absolvierte. Nichts verstellte diese Wand, kein Tisch, kein Bücherregal. Sie bestand zum Großteil aus zwei Lagen dicken Papiers, zwischen denen sich ein feines Metallgeflecht als Schutz gegen unbeabsichtigte Zerstörung befand. Die niedrige Verlängerung eines Bücherschrankes bildete den restlichen Teil dieser Wand – eine Art Durchreiche mit einer lichtsicheren Tür auf jeder Seite.
Überall sonst in den getrennten Ländern hatten die Lichtgeborenen ihre ständig beleuchteten Dörfer und Städte, die Nachtgeborenen ihre immerwährend dunklen unterirdischen Höhlen und überirdischen Festungen. Hier in Minhorne dagegen lebten die Nachtgeborenen und die Lichtgeborenen Seite an Seite. Bei Nacht gehörten die Straßen den Nachtgeborenen, bei Tag den Lichtgeborenen, und beide Rassen hatten ihre eigenen Orte für jene Stunden, in denen ihre jeweiligen Angehörigen nicht draußen sein konnten. Die Reihenhäuser, von denen er eins bewohnte, teilten ihre Rückwand mit einer Reihe von Häusern, die an den Palast des Prinzen der Lichtgeborenen grenzte. Für die Nachtgeborenen war dies sicher keine vornehme Adresse, aber seit fünf Generationen hatte die Familie Balthasars und die lichtgeborene Familie Weiße Hand – ihres Zeichens Schwertkämpfer und Auftragsmörder – in Freundschaft und Vertrauen zusammengelebt, wie es diese dünne Papierwand bewies. Sollte diese Wand zerstört werden, würde das Licht, das Floria zum Leben brauchte, Balthasar zu Asche verbrennen.
In Balthasars Jugend war die unerreichbare Floria sein großer Schwarm gewesen, eine Liebe, der er lediglich in zahlreichen Nachtträumen, Gedichten und Liedern gefrönt hatte, jedenfalls so lange, bis er Telmaine kennenlernte. Floria hatte sein Werben um seine zukünftige Frau mit einem Enthusiasmus unterstützt, der ihm im Nachhinein nur wenig schmeichelhaft erschien. Allerdings war er als junger Bursche tatsächlich ziemlich schwärmerisch gewesen, doch mit zunehmender Reife – und später als Ehemann – hatte er gelernt, seine Gefühle mehr für sich zu behalten.
Heute waren Floria und er gute Freunde und enge Vertraute, und so, wie sie ihm gelegentlich half, indem sie in den Tagstunden die eine oder andere Botschaft überbrachte oder ihm einen anderen kleinen Gefallen tat, überbrachte er ihre Nachrichten bei Nacht und half ihr, im Geheimdienst ihres Prinzen aufzusteigen.
Jetzt sagte Floria: »Bal? Das war doch nicht Telmaines Stimme, oder?« Es überraschte ihn nicht, dass sie ihre Stimmen selbst durch die geschlossenen Türen hindurch gehört hatte. Florias Gehör kam zwar nicht dem der Nachtgeborenen gleich, aber für eine Lichtgeborene war es dennoch ungewöhnlich gut. Sie hatte ihm erklärt, dass sie stets darum bemüht war, ihre Sinne zu schärfen, so wie sie immer alles tat, was ihr half zu überleben und erfolgreich zu sein.
Er setzte sich in den Sessel, der der Papierwand am nächsten stand, legte den Arm auf die Lehne und berührte mit den Fingerspitzen die Wand. Sie konnte ihn nicht sehen – niemals –, und wegen des Metallgeflechts in der Wand konnte er auch sie nicht mehr mit seinen Ultraschallsinnen wahrnehmen. Telmaine hatte sich damals strikt geweigert, ihren Erstgeborenen mit ins Haus zu bringen, bevor nicht dieses Geflecht angebracht wurde.
»Das war Tercelle Amberley. Mein Bruder hat ihr früher einmal den Hof gemacht.« Dann erzählte er ihr, was die Dame an seine Tür geführt hatte. Während er sprach, hörte er klar und deutlich, wie sie jenseits der Wand ein Stilett schärfte.
»Das gefällt mir nicht«, sagte sie. Dann vernahm er, wie sie das Stilett beiseitelegte und im Raum auf und ab ging – hin und wieder unterbrochen von
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