Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren
sein Arbeitszimmer, um Floria in dem lichtsicheren Wandschrank eine Nachricht für Olivede zu hinterlegen, die sie ihr möglichst bis Anbruch der Nacht überbringen sollte. Dann bemühte er sich, es Tercelle so bequem wie möglich zu machen, und sammelte alle Dinge zusammen, die er für die Geburt brauchen würde.
Das Kind war noch nicht geboren, als Olivede kurz nach Einbruch der Dunkelheit eintraf. Sie kam mit einer Dynamik hereingestapft, die alles andere als damenhaft anmutete, schüttelte ihren Mantel ab und stellte ihre Arzttasche auf den Boden. Sie war drei Jahre älter als Balthasar und ebenso schlank und unscheinbar wie er. Ihr Gesichtsausdruck, mit dem sie sich normalerweise gegen die Beleidigungen aller Welt schützte, erschien seiner Sondierung nach jetzt eher warmherzig.
»Floria hat deine Nachricht weitergeleitet«, sagte sie und beugte sich vor, berührte mit ihren Lippen ganz leicht seine Wange. Er erhob keine Einwände gegen diesen Kuss, denn er hatte sich schon vor langer Zeit mit ihrer angeborenen Fähigkeit abgefunden, seine Gedanken bei jedem zufälligen Hautkontakt zu lesen. Sie gab weder einen Kommentar dazu ab, was Floria ihr ansonsten gesagt haben mochte, noch stellte sie irgendwelche Fragen.
»Hallo Tercelle«, sagte sie und nahm eine gewisse Vertrautheit in Anspruch, ohne sich um die Feinheiten eines höflichen Protokolls zu scheren.
Tercelle sondierte sie mit ihrem Ultraschall und wandte den Kopf ab. Olivede war mehr als skandalös: Ein weiblicher Arzt, eine praktizierende Magierin und obendrein eine respektierte Bürgerin der Halbwelt. »Fassen Sie mich nicht an«, zischte Tercelle mit zusammengebissenen Zähnen.
Olivede zog ein Paar dünne Handschuhe aus ihrer Tasche. Als magische Heilerin trug sie solche Handschuhe nicht nur aus hygienischen Gründen, sondern auch, um erkennen zu lassen, dass sie nicht die Absicht habe, in den Geist ihrer Patienten einzudringen. Balthasar kannte sich gut mit Magie aus und wusste, dass sie keine Handschuhe benötigte: Olivede verfügte über ausreichend Kraft und Erfahrung, um ihre Fähigkeiten auch ohne solche Hilfsmittel zu kontrollieren. Außerdem hatte sie ein Gelübde abgelegt, das sie noch zusätzlich einschränkte. Dennoch waren die Handschuhe für ihre Patienten ein notwendiges Zugeständnis.
»Seien Sie nicht albern«, erwiderte sie knapp. »Ich werde nichts über Sie in Erfahrung bringen, was Sie mir nicht freiwillig erzählen. Bal«, sagte sie mit fester Stimme, während sie sich über die ächzende Frau beugte, »mach dich irgendwo anders nützlich. Ich werde dich schon rufen, wenn ich dich brauche.«
Es sollte eine lange Nacht werden. Zwischen kurzen Phasen erbitterten Schweigens stöhnte Tercelle vor Schmerz und verfluchte den Einzigen Gott und ihren rücksichtslosen Geliebten, obwohl sie Letzteren, wie Balthasar auffiel, niemals beim Namen nannte. Olivede schlug vor, ihr mit etwas Magie Linderung zu verschaffen, was Tercelle jedoch, wie nicht anders zu erwarten, ablehnte. Zweifellos hielt sie davon sowohl der Gedanke daran ab, was sie der Magierin durch ihre Berührung alles offenbaren würde, als auch allein die Vorstellung, Magie auf sich wirken zu lassen. Es war schon weit nach Tagesanbruch, als er in seinem Exil im Arbeitszimmer die Schreie eines Säuglings hörte, die Tercelles raues Kreischen übertönten.
Gleich darauf rief Olivede mit lauter Stimme: »Bal, ich brauche deine Hilfe!«
Olivede stand über das Bett gebeugt und war zwischen Tercelles hochgezogenen Knien beschäftigt. Ohne sich von ihrer Tätigkeit abzuwenden, sagte sie: »Wir haben hier Zwillinge. Kümmere dich um den da.« In der Wiege lag ein zappelnder Säugling, der offensichtlich nur hastig in eine Decke gewickelt und beiseitegelegt worden war. Balthasar schob vorsichtig eine Hand unter das kleine Bündel, hob es aus der Wiege, legte es auf die Kommode und griff nach einem Stapel zusammengefalteter Handtücher. Hinter ihm schrie Tercelle durch zusammengebissene Zähne, und Olivede sagte mit einer Stimme, die äußerste Konzentration verriet: »Jetzt, nur noch einmal.«
Balthasar wickelte das Baby aus, nahm die feuchte Decke beiseite und rieb das winzige nackte Wesen sorgfältig trocken. Gleichzeitig sondierte er es ganz behutsam, um den Eindruck, den er durch seinen Tastsinn gewonnen hatte, zu ergänzen. Allem Anschein nach handelte es sich um einen gesunden Jungen, der zwar etwas klein war, wie bei Zwillingen üblich, aber mit normal gebogenen
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