Nachtgefieder • Laura Gottbergs siebter Fall
die Speisekarte kommen ließ, die Desserts studierte und verkündete, dass es seine Lieblingsnachspeise gebe, Zabaione, da beugte er sich vor, sah ihr genau in die Augen und fragte: «Was willst du, Carlotta?»
«Ach, spiel doch nicht den Commissario! Was ist denn dabei, wenn zwei Menschen, die mal ziemlich lange verheiratet waren, einen fröhlichen Abend miteinander verbringen?»
«Dieser Abend war nicht meine Idee, Carlotta.»
«Kannst du nicht ein bisschen lockerer sein? Ich meine, so schlecht war unsere Ehe doch gar nicht.» Sie wandte den Blick ab und begann die Papierserviette zu falten.
«Ehe du nach Rom gegangen bist, warst du anderer Ansicht. Vergiss nicht, dass
du
gegangen bist.»
«Ich bin gegangen, weil du schon lange nicht mehr anwesend warst, Angelo! Und
du
weißt das ganz genau!» Die Serviette in Carlottas Händen wurde immer kleiner.
Ja, natürlich. Jetzt hatten sie den Punkt erreicht. Was sollte er antworten? Dass er anders war als sie, dass er sich nur begrenzt für Mode und Geld interessierte? Dass er gern Bücher las und nicht gern fernsah, während sie immer den Fernseher laufen ließ, wenn sie zu Hause war? Er hätte noch viel mehr aufzählen können, auch seine innere Wüste, die sich immer weiter ausgebreitet hatte, was allerdings nicht nur an Carlotta lag, sondern auch an ihm selbst und an vielen alten Geschichten.
«Ja», antwortete er, «du hast völlig recht.»
«Grazie.»
«Per piacere.»
«Du siehst immer noch gut aus, Angelo.»
«Was soll das, Carlotta?»
«Findest du, dass ich auch noch halbwegs gut aussehe?»
«Natürlich siehst du noch gut aus. Du bist ja schließlich erst Anfang vierzig.»
«Ich meine, bin ich für dich noch attraktiv?»
«Carlotta, wir sind geschieden.»
«Aber deshalb kann ich doch trotzdem für dich attraktiv sein!»
«Du bist attraktiv, Carlotta, aber ich …»
«Was?»
«Ich verstehe nicht, was du von mir willst»
«Ich auch nicht.» Carlotta biss auf ihre Unterlippe und schien plötzlich den Tränen nahe.
«Ich weiß nicht, was ich will und was das Leben mit mir macht, Angelo. Es war verdammt hart in Rom. Nicht immer schlecht, aber meistens hart. Harter Job, harte Konkurrenz. Auf allen Gebieten. Ich kann das nicht mehr, weißt du …»
«Hast du deinen Job verloren?»
«Ja, ich habe meinen Job verloren. Sie haben eine Jüngere genommen, die aussieht wie ein Model, das auf den Strich geht.»
«Wie bitte?»
«Du hast ganz richtig gehört! Kannst du mir erklären, warum bei uns alle Frauen wie Models aussehen müssen, die auf den Strich gehen?»
«Na ja, alle nicht.»
«Aber diejenigen, die erfolgreich sein wollen. Außerdem weichst du aus! Erklär mir, warum! Du bist ein Mann, und du musst es wissen!»
«Ich kann dir das nicht erklären. Vielleicht hat es etwas mit den Müttern in unserem Land zu tun. Vielleicht müssen sich die Frauen deutlich von Müttern unterscheiden, weil die Männer sonst Panik bekommen.»
«Du auch? Bist du auch so ein Typ?»
«Warum stellst du mir solche Fragen, Carlotta? Hast du ausgesehen wie ein Model, das auf den Strich geht, als wir geheiratet haben? Ich kann mich nicht erinnern! Du warst eine ganz natürliche, schöne, junge Frau. Erst in unserer Ehe hast du dich verändert. Vielleicht liegt es am Fernsehen. Da gibt es nur noch Frauen, die aussehen wie Nutten.»
«Sei nicht so vulgär!»
«Wer hat davon angefangen, du oder ich?»
«Aber ich bin nicht vulgär! Ich bin verzweifelt! Männer verstehen das nicht. Es ist ihnen auch völlig egal!»
«Was ist den Männern egal, Carlotta?»
«Die Verzweiflung der Frauen ist ihnen egal. Ach, reden wir von etwas anderem. Hast du eine Freundin?»
«Natürlich habe ich eine Freundin.»
Carlotta betrachtete die zusammengefaltete Serviette auf ihrer flachen Hand, zerknüllte sie plötzlich. «Wahrscheinlich ist sie zwanzig Jahre jünger als du! So läuft das doch immer!»
Guerrini füllte sein Weinglas bis zum Rand und trank es halb aus, ehe er antwortete.
«Wie kommst du darauf?»
«Weil alle älteren Männer, die ich in Rom getroffen habe, junge Freundinnen hatten. Für mich wären nur noch die Siebzigjährigen geblieben. Mit ein bisschen Glück.»
«Soll ich daraus schließen, dass du keinen Freund hast?»
«Ah, du bist so klug! Kein Wunder, dass du es zum Commissario gebracht hast!» Carlotta hielt Guerrini ihr leeres Glas hin, er füllte es, und sie leerte es in einem Zug. «Lass uns gehen! Ich möchte endlich deine Wohnung sehen. Du hast es mir
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