Nachtgefieder • Laura Gottbergs siebter Fall
gar nicht selbst aus? Vielleicht wurden sie ihm zugeteilt. Wer teilte sie ihm zu? Wer kassierte dabei mit oder vielleicht sogar den größten Teil?
Und was befähigte Sutton dazu, so erfolgreich zu sein?
Laura erinnerte sich an einen Artikel über Psychopathen, den sie in einer Fachzeitschrift gelesen hatte. Sinngemäß definierten die Psychologen solche Persönlichkeiten als zielorientiert, empathie- und rücksichtslos. Wenn sie das Geld einer Frau wollen, dann lügen sie ihr vor, dass sie sie lieben. Und sie lügen überzeugend.
Fröstelnd steckte Laura beide Hände in die Jackentaschen. Schneeflocken wirbelten plötzlich im Schein der Straßenbeleuchtung, zerschmolzen auf ihrem Gesicht. Mit der Zunge fing sie ein paar auf, das hatte sie schon als kleines Mädchen gemacht.
War Benjamin Sutton ein Psychopath? Ein Mensch, der taub für die Gefühle anderer war, einer, der andere eiskalt für seine Zwecke benutzte? Mordmotive gab es in diesem Fall genügend. Möglicherweise hatte ihn eines seiner ehemaligen Opfer umgebracht oder sein aktuelles? Donatella Cipriani, deren etwas wirre Geschichte Laura immer unglaubwürdiger erschien. Vielleicht war sie nur deshalb zu ihr ins Präsidium gekommen, um einen Verdacht von sich abzulenken. Welcher Mörder geht schon zur Polizei … vielleicht hatte sie das gedacht? Aber es gab durchaus Mörder, die zur Polizei gingen, um den Verdacht auf andere zu lenken, und meistens stellte sich diese Strategie als Irrtum heraus.
Durchgefroren kam Laura wieder bei ihrem Wagen an. Sie fühlte sich besser und hatte die leichte Übelkeit überwunden, die nicht nur ihren Kollegen Baumann erfasst hatte. Während sie durch die nächtliche Stadt nach Hause fuhr, dachte sie an den Urlaub mit Angelo zurück, an all die absurden Situationen, die sie gemeinsam erlebt hatten. An seine Zärtlichkeit und das gemeinsame Lachen. Es half zumindest zeitweise, das Bild der toten Monica Sutton im roten Wasser zu verdrängen, das immer wieder in ihr aufstieg.
Laura musste sogar lächeln und verstand plötzlich ihre Enttäuschung über das vielbenutzte Liebesgedicht des Petronius nicht mehr. Es hatte durchaus komische und absurde Aspekte, dass ihr eigener Vater, Angelo und Sir Benjamin es ausgesucht hatten, um ihre jeweiligen Liebesobjekte zu beeindrucken.
Das ist die reife, abgeklärte, erwachsene Sichtweise, dachte Laura, und trotzdem ist da noch die andere …
Nachdem sie ihren Wagen abgestellt hatte und vor der Haustür nach ihrem Schlüssel suchte, ließ sie die Papierfetzen in ihrer Tasche durch die Finger gleiten. Das war die andere Sichtweise.
Sofia saß im Wohnzimmer und telefonierte, als Laura kurz vor Mitternacht die Wohnung betrat. Auch in Lucas Zimmer brannte noch Licht.
«Lasst euch von mir nicht stören!», rief Laura, obwohl sie sich plötzlich ärgerte. Sofia würde am nächsten Morgen eine Mathearbeit schreiben und Luca einen Englischtest. Okay, Luca fühlte sich über mütterliche Ermahnungen inzwischen erhaben, schließlich war er fast volljährig. Aber Sofia, mit ihren fünfzehneinhalb – sie gehörte um diese Zeit längst ins Bett!
Entschlossen öffnete Laura die Wohnzimmertür. Sofia saß im Schneidersitz auf dem großen Sofa mit dem Sonnenblumenmuster, ihre Wangen glühten, ihre Augen leuchteten.
«Sofia, es ist beinahe Mitternacht!»
«Hi Mum», Sofia lächelte. «It’s my mum. She just came back from work.»
Patrick, dachte Laura. Sofia telefonierte ganz offensichtlich mit ihrem englisch-irischen Freund, den sie seit dem Schüleraustausch im letzten Sommer vergötterte. Laura machte ihrer Tochter Zeichen, das Gespräch zu beenden, und ging in die Küche, um sich eine Tasse Pfefferminztee aufzugießen.
Erstaunlicherweise folgte Sofia nach kurzer Zeit und fiel Laura um den Hals. «Tut mir leid, Mama. Ich hab gar nicht gemerkt, dass es schon so spät ist. In England ist es außerdem eine Stunde früher. Wieso bist du schon da? Sonst dauert’s doch immer länger.»
«Telefonierst du eigentlich immer mit England, wenn ich Nachtdienst habe?»
«Schau nicht so! Ist etwa die Telefonrechnung zu hoch? Ich nehme immer die Billignummern! Patrick auch! Wir wechseln uns ab.»
«Sehr nett von euch. Hast du schon mal an deine Mathearbeit gedacht?»
«Klar! Ich hab’s kapiert, mehr kann ich nicht machen. Außerdem brauch ich nicht mehr so viel Schlaf. Bei Luca sagst du ja auch nichts, wenn er länger wach bleibt!»
«Luca wird in einem halben Jahr achtzehn, Sofi.»
«Ich
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