Nachtgespenster
hochgehen«, schlug Doreen vor.
»Okay.« Ich legte ihr einen Arm um die Schulter. »Mal ehrlich, wie geht es dir?«
Sie schaute zu Boden. »Nicht besonders gut.«
»Keine Sorge, wir schaffen es.«
»Du kennst ihn nicht, John. Er ist schrecklich. Er lebt in einem Wahn. Er will Blut - Menschenblut.«
»Dafür bin ich ja hier.«
»Wieso? Willst du ihm das Blut…«
»Nein, nein, keine Sorge. So weit werde ich es nicht kommen lassen, Doreen.«
Meine Antwort hatte sie nicht fröhlicher gemacht, denn sie sagte: »Du hast außerdem noch ein zweites Problem.« Sie tippte mit dem Zeigefinger auf sich. »Das bin ich, John. Ich bin dein zweites Problem, denn ich werde mich wieder verwandeln. Du wirst plötzlich erleben, wie ich zu einer rasenden Bestie werden kann.«
»So bist du mir in der Nacht aber nicht vorgekommen.«
»Da hatte der Mond seine volle Kraft auch nicht erreicht. Heute wird es anders sein.«
»Wir werden es darauf ankommen lassen.« Ich wollte vorgehen, aber Doreen hielt mich zurück.
»John, ich möchte dich um eines bitten. Wenn ich mich verwandele oder schon verwandelt habe, dann nimm bitte keine Rücksicht auf mich. Töte mich. Mach meinem verfluchten Dasein ein Ende. Ich kann so nicht mehr leben. Ich würde immer wieder bei Vollmond in den gleichen Zustand hineingeraten, denn ich bin ebenso verflucht wie mein Vater, diese Bestie. Versprichst du mir das?«
»Sorry, wenn ich dich enttäuschen muß, Doreen, aber ich werde dir nichts versprechen. Wir beide handeln so, wie es die Situation erfordert. Das ist am besten.«
Sie senkte den Kopf. »Dein Vertrauen ehrt mich ja. Aber es ist falsch eingesetzt.«
Ich nahm Doreen wie ein kleines Kind an die Hand und stieg mit ihr die Stufen hoch. Es war und blieb still in der Umgebung. Keine Stimme, keine Geräusche, bis auf das Knarren der alten Angeln, das ertönte, als ich die Tür nach innen drückte und meinen Blick zuerst durch einen großen, saalartigen, aber leeren Raum schweifen ließ. Es gab wirklich kein einziges Möbelstück. So etwas wie der Atem der Geschichte durchwehte diese Halle, die in einem trüben, grauen Licht lag, obwohl der Sonnenschein durch die Fenster drang, zumindest aber von den schmutzigen Scheiben gefiltert wurde. Auch die grauen Wände saugten das Licht auf.
Ich ging weiter.
Leise diesmal.
Hinter mir hörte ich die tappenden Schritte von Doreen La Monte. Sie hatte die Tür wieder geschlossen, und so fiel noch weniger Licht hinein.
Ein großer Raum. Ein leerer Raum. Eine gewaltige Gruft. Denn so mußte der Earl ihn ansehen, weil es ihm nicht mehr gelang, das Schloß zu verlassen.
Ich blieb in der Mitte des Saals stehen. Von hier aus sah ich die nach oben führende Treppe. Ich wandte mich zu Doreen um.
Doreen war blaß geworden. Sie wirkte wie ein Gespenst, das einen menschlichen Körper erhalten hatte. Selbst ihre Augen schienen sich tiefer in die Höhlen zurückgezogen zu haben. Da sie zitterte, ging ich zu ihr und legte ihr beide Hände auf die Schultern. Klein und schmächtig wirkte sie in ihrer Furcht. Auch mein Lächeln schaffte es nicht, die junge Frau aufzuheitern.
»Hab keine Angst, wir packen das!«
»Das sagst du so, John. Bei mir ist es schlimm. Ich habe das Gefühl, als lägen nicht nur Zentnerlasten auf, sondern auch in meiner Brust. Kannst du das begreifen, John? Schwere Lasten, die ich mit mir herumzuschleppen habe.«
»Ja, das weiß ich alles, und ich möchte, daß es dir besser geht.«
»Dann wirst du mich später töten müssen. Dann ist alles vorbei.«
»Im Gegenteil, du wirst leben.«
»Wie kannst du…«
Ich legte ihr einen Finger auf die Lippen. »Nicht so voreilig, meine Liebe. Ich möchte etwas ausprobieren. Ich werde dich testen, wenn du einverstanden bist.«
»Bleibt mir etwas anderes übrig?«
»Eigentlich nicht, Doreen. Dieser Test aber ist wichtig, sehr wichtig sogar.«
»Okay. Einverstanden. Wenn ich einem Menschen noch vertrauen kann, dann bist du es. Obwohl du wahrscheinlich zu meinem Mörder werden wirst und werden mußt.«
Auf diese Bemerkung ging ich nicht ein und holte das Kreuz hervor. Bewußt langsam, damit sich Doreen an den Anblick gewöhnen konnte. Sie hatte es in der Nacht schon gesehen und voller Panik reagiert. Ich war gespannt, ob die Erinnerungen jetzt wieder zurückkehren würden und sie ebenfalls schreiend davonlief.
Das trat nicht ein.
Auf der Stelle blieb Doreen stehen, den Blick jetzt auf das freiliegende Kreuz gerichtet. Ich kippte es jetzt, damit es auf
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