Nachtjaeger
wegführte. Er sah die Straße entlang bis zu jenem Punkt, wo sie sich im Dunkel der Nacht im Wald verlor.
»Deine Zeit kommt immer näher, mein Sohn. Ich weiß, dass du bereit sein wirst. Aber wenn du das Leben, das für dich bestimmt ist, nicht führen willst …« Sein Vater wies mit der Hand in die Nacht – eine schlichte Geste voller Anmut und Autorität zugleich – »… dann geh.«
Leander stand wie versteinert auf der Mauer. Der nächtliche Wind ließ das Laub der Bäume um sie herum rascheln. Der Duft von Holunder und nassem Gras stieg ihm kühl und klar in die Nase.
»Deserteure sind die schlimmste Bedrohung unseres Volkes«, sagte Leander langsam, während er überlegte. Die Gedanken in seinem Kopf überschlugen sich. »Sie sind verzweifelt. Außer Kontrolle. Gefährlich. Beinahe so gefährlich wie …«
Er sprach das Wort nicht aus, sondern ließ es in der Luft zwischen ihnen ungesagt schweben.
»Ja«, erwiderte sein Vater.
Leander kaute auf seiner Unterlippe. »Der Rat würde mich jagen.«
Sein Vater lächelte gelassen. »Ja.«
»Ich müsste irgendwo einen Wald finden, wo ich leben und mich verwandeln kann, ohne dass es jemandem auffällt …«
»Ich kann mir vorstellen, dass du durchaus in der Lage wärst, allein zu überleben, wenn es nötig ist. Von meinen Kindern bist du das mutigste und das bei Weitem erfinderischste. Obwohl du jung bist, würdest du das bestimmt schaffen. Da bin ich mir sicher. Und es gibt viele Wälder auf der ganzen Welt. In der Hinsicht müsstest du dir keine Sorgen machen.«
Leander drehte sich um und warf einen Blick auf Sommerley. Das Haus lag verborgen in den wilden, schönen Wäldern. Sein Herz zog sich auf einmal zusammen. Ob es das aus Freude oder aus Reue tat, wusste er nicht. »Mutter würde dich umbringen.«
Sein Vater nickte kleinlaut. »Höchstwahrscheinlich.«
Leander wurde jetzt wütend. »Warum? Warum würdest du so etwas machen? Warum würdest du mich gehen lassen, wenn es gegen das Gesetz ist – wenn niemand gehen darf, nicht einmal der Alpha?«
Sein Vater sah plötzlich älter aus. In den attraktiven Gesichtszügen zeigte sich die Last eines Lebens der Pflichterfüllung. Das Dasein als Anführer spiegelte sich in den Linien um seinen Mund und in den Falten auf seiner Stirn wider.
»Weil du mein Sohn bist und ich dich liebe. Du hast eine Wahl, wie wir alle. Aber du musst bereit sein, auch die Konsequenzen zu tragen. Du musst bereit sein, alles hinter dir zu lassen, was du hast oder was du jemals hier in Sommerley haben wirst: deine Freunde, deine Familie, dein Zuhause. Du musst bereit sein, dein Erbe, deine Zukunft und jegliche Form von Sicherheit hinter dir zu lassen. Du musst bereit sein, gejagt und höchstwahrscheinlich auch gefangen zu werden, ehe dich der Rat aufs Schärfste bestraft. Du musst bereit sein, auch von unseren Feinden verfolgt zu werden, von einem Ort zum nächsten zu fliehen und dich überall auf dieser Welt als Außenseiter zu fühlen. Du musst dir sicher sein, dass das, was du tust, so richtig ist, dass es sich lohnt, all diese Dinge auf dich zu nehmen und deine Heimat zu verlassen.«
Sein Vater seufzte und musterte den Rand der Mauer, auf der sie standen. Er schaute auf die dunkle Wiese unter ihnen, auf der Blumen wuchsen und Mäuse schliefen. Der süße, reife Geruch des Sommers, der kurz bevorstand, stieg ihnen in die Nase. »Für mich gibt es nur eine Sache auf dieser Welt, die ein solches Opfer rechtfertigt. Nur eine einzige Sache auf der ganzen Welt.«
»Und was?«, flüsterte Leander, den auf einmal eine seltsame Ahnung erfüllte.
Das bernsteinfarbene Licht der Laternen um das Pförtnerhaus ließ das Profil seines Vaters warm schimmern, als dieser den Kopf ein wenig drehte und ihn anlächelte.
»Die Liebe.«
Leander blinzelte verwirrt. Das Lächeln seines Vaters wurde breiter. »Bist du verliebt, mein Sohn?«
Leander rümpfte die Nase und schnaubte empört. »Nein!«
»Aha. Nun, dann ist es vielleicht nicht wert, dieses Risiko auf dich zu nehmen. Aber ich überlasse es dir, eine Entscheidung zu fällen.«
Sein Vater begann sich von seinen Füßen aufwärts in Nebel zu verwandeln. Langsam wurde sein schimmernder Körper zu weißer Luft, die wie ein Dampf über einem See hing, bis nur noch seine Schultern und sein Kopf übrig blieben. Es war ein Trick, den Leander bereits kannte und den sein Vater gerne anwandte, wenn seine Mutter wütend auf ihn war und er sie spielerisch wieder für sich gewinnen
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