Nachtjaeger
verletzlich, so tollkühn, so dreist.
Finde mich.
Er rief sie in Gedanken. Langsam schloss er die Augen und ließ Jenna unter seine Haut kriechen. Die warmen, weiblichen Spuren ihres Wesens setzten sich wie Puzzleteile vor seinem inneren Auge zusammen. Er öffnete seine Nase, seine Ohren und sein Herz und ließ das Tier in sich die Führung übernehmen – die große Katze, die des Nachts mit der Nase im Wind auf Jagd ging und mit ihren scharfen Klauen und Zähnen jenen einen raschen Tod brachte, die ihr zum Opfer fielen. Dieses Tier in ihm war stets bereit und wartete nur auf die Chance, ausbrechen zu können.
Er holte tief Luft und fand Jenna in seinem Inneren – die Frau, die er zu der Seinen gemacht hatte.
Ihr Duft war so stark wie beim ersten Mal, als er sie gesehen hatte – jenen ersten, atemberaubenden Moment, als er sie durch die Glastüren des Supermarkts erblickt hatte. Die flirrende Hitze des Sommers wirkte im Vergleich zu dem Feuer, das sie in seinem Körper und Herzen entflammt hatte, geradezu lächerlich.
Damals war es faszinierend, aufregend, unwiderstehlich gewesen. Jetzt war dieser Ruf, den sie in ihm auslöste, unabdingbar für ihr Überleben.
Ihr Geruch, der beinahe wie eine Vibration, wie eine greifbare Gegenwart war, löste etwas in ihm aus, das er nicht benennen konnte. Es existierte in seinem tiefsten Inneren, in jenem Teil von ihm, der ganz Tier, ganz Jäger war.
Sie war die Seine. Sie gehörte zu ihm. Er musste sie finden. Für einen Moment atmete er ihren Geist ein. Ein großer, schmerzvoller Hunger fraß sich in seine Brust. Dann öffnete der Alpha die Augen, verwandelte sich in Nebel und drängte durch das Fenster in den düsteren Himmel hinauf.
28
Das Blut hatte sich auf den weißen Laken in großen, unregelmäßigen Kreisen ausgebreitet. Es changierte von hellrot über dunkelrot bis zu einer furchtbaren bräunlichen Farbe. Jenna hatte noch nie so viel Blut auf einmal gesehen.
Sie hegte wenig Hoffnung, dass die Frau, die das Blut verloren hatte, noch am Leben war. »Daria«, flüsterte sie und streckte einen Finger aus, um die kalte, blasse Wange zu berühren. »Daria?«
Daria lag nackt und mit ausgestreckten Armen und Beinen auf dem Bett. Ihre Hand- und Fußgelenke waren an den Eisenrahmen gekettet, während ihre Haare dunkel und zerzaust ihren Kopf umrahmten.
Ihr ganzer Körper war mit Wunden übersät.
Schreckliche violette und schwarze Flecken zeigten sich auf ihren Beinen und Armen. Tiefe Schnitte im Fleisch ihrer Schenkel und ihres Bauchs, schwarze kleine Brandmale auf der zarten Haut um ihre Brustwarzen.
Zorn stieg in Jenna auf und verkrampfte ihr den Magen, während sie auf das makabere Bild vor sich starrte. Darias lebloser Körper war zerschnitten und zerschlagen, ihr Gesicht, weiß wie der Tod, voller Blut und blauer Flecken. Dennoch strahlte es eine fast unheimliche Schönheit aus.
Darias Lider flatterten. Ein leises Stöhnen kam über ihre geschwollenen Lippen. Gott sei Dank, sie war am Leben. Jenna setzte sich vorsichtig an den Rand des Betts und hob Darias Arm. Er war eiskalt und der Puls sehr schwach.
»Geh«, flüsterte Daria, wobei sie ihren Kopf langsam und angestrengt bewegte und dabei eine gequälte Grimasse schnitt. Mit einer trockenen, bleichen Zunge fuhr sie sich über die aufgerissenen Lippen. Sie öffnete die Augen. Eine Pupille war größer als die andere. »Jenna, geh …«
»Rühr dich nicht. Sprich nicht«, flehte Jenna und strich ihr sanft eine blutverkrustete Haarlocke aus den Augen. »Ich werde dich hier rausholen. Es wird alles gut werden.«
Es war eine tollkühne Lüge. Jenna hatte noch nie jemanden gesehen, bei dem sie weniger das Gefühl hatte, dass alles gut werden würde.
»Ich habe ihnen nichts gesagt …« Darias Stimme klang gebrochen und war kaum hörbar. »Noch nicht …«
Ihr fiebriger Blick fiel auf etwas hinter Jennas Schulter. Obwohl es unmöglich schien, wurde ihr Gesicht noch weißer. Sie schloss wieder die Augenlider und ließ sich mit einem Schauder zurücksinken. Sie sagte nichts mehr.
Jenna sah sich hastig in dem Zimmer um. Eine weitere Videokamera stand auf einem Stativ in der Ecke. Drei Holzstühle befanden sich an einer Wand, und auf dem Nachttischchen neben dem Bett waren ein offener Aktenkoffer, eine Lampe und ein blutiges Werkzeugset auf einem schimmernden Edelstahltablett. Ein Lederriemen, eine Zange und Messer mit gezackten sowie glatten Klingen. Der Boden war aus Beton und hatte einen Abfluss in der
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