Nachtklinge: Roman (German Edition)
daran dachte Tycho nicht, als er erwachte.
Er spürte sofort, dass sich niemand mehr in Mofacon befand. Kein Laut war zu vernehmen. Er sprang auf die Füße und weckte dabei Rosalie auf. »Pssst!«, zischte er.
Sie erstarrte.
Hinter der Kellertür war alles totenstill.
Plötzlich stapfte jemand über die Eichendielen in der Etage über ihnen. Alta Mofacon war also doch nicht ganz verlassen. Die Eingangstür öffnete sich, ein gedämpfter Wortwechsel war zu vernehmen. Er konnte die Worte nicht verstehen, die Stimmen klangen aber eher bestürzt als in Panik.
Er drehte sich zu Rosalie um, die sich unbemerkt an ihn herangeschlichen hatte. Sie erwiderte sein anerkennendes Lächeln mit einem breiten Grinsen. Ihre Beziehung veränderte sich allmählich. Sie hatte ihn dafür gehasst, dass er an ihrem Tod schuld war. Nun schien sie dankbar dafür zu sein, dass er sie wieder aus jenem Zwischenreich zurückgeholt hatte.
»Sind wir eingesperrt?«
Es stimmte. Die Tür war verriegelt, der Schlüssel fehlte. Durch den Spalt zwischen Tür und Mauer waren die schweren Bolzen zu sehen, die vorgelegt worden waren. Das Schloss war neu, die Tür massiv und die Angeln ebenfalls vor Kurzem ersetzt worden.
»Vielleicht kommt man durch den Belüftungsschacht hinaus?«
»Los«, befahl Tycho. »Geh und hol den Schlüssel.«
Sie schien zu Rauch zu werden und verschwand wie eine wirbelnde, schwarzsamtene Säule durch den schmalen Schacht. Staub rieselte herab, dann herrschte wieder Stille.
Tycho konnte sich nicht erklären, was passiert war. Hatte Giulietta Alta Mofacon plötzlich verlassen? Hatte sie Angst vor ihm gehabt? Sie würde doch nicht abreisen, ohne ihm davon zu erzählen? In jedem Fall hätte sie den Keller nicht verschlossen. Sie war die Einzige, die wusste, dass Tycho und Rosalie hier unten schliefen. Er ließ jeden Augenblick der vergangenen Nacht an seinem geistigen Auge vorüberziehen, hielt jedes einzelne Bild fest.
Er beobachtete sich wie einen Fremden, der durch größte Vorsicht versucht hatte, zu verhindern, was dennoch geschehen war: Giulietta war geflohen.
Oder es war schlimmer. Die Kriegshunde könnten …
Seine Kehle schnürte sich zusammen, und er atmete tief ein, schmeckte Staub, Moder und abgestandene Luft. Was er am meisten fürchtete, witterte er jedoch nicht. Kein noch so schwacher Geruch nach Tod deutete darauf hin, dass ihre Bediensteten ermordet worden waren.
An der Kellertür ertönte ein leises Kratzen. Rosalie hatte den Schlüssel gefunden und die Bolzen knarrten, als sie sie zur Seite schob. »Niemand hat mich gesehen«, sagte sie schnell.
Der große Saal lag verlassen da.
Im dunklen Hof stand ein zerbrochener Karren. Blut trocknete auf der Schwelle der Eingangstür. Immerhin stammte es nicht von Giulietta, das war das einzig Wichtige.
»Hol mir jemanden.«
Rosalie nickte.
»Leise.«
Sie kehrte mit einem Kind zurück.
Federico schluchzte unterdrückt, hörte aber auf, als er merkte, dass ihm keine Gefahr drohte. Er war Küchenjunge, seine Mutter arbeitete in der Spülküche. Sein Vater war schon lange tot. Bis auf seine Mutter, den Koch, den Haushofmeister und einen Diener waren alle Bediensteten ins Dorf zurückgekehrt, da sie nicht mehr benötigt wurden.
»Wo ist Prinzessin Giulietta?«
Der Junge sagte, ihre Familie habe sie mitgenommen.
Ohne Gepäck, das bedeutete, die Soldaten hatten den Befehl gehabt, sie so schnell wie möglich nach Venedig zurückzubringen. Bei dem mächtigen Herrn, der den Befehl überbracht hatte, handelte es sich der Beschreibung nach um Roderigo. Er hatte sich wenig um ihre Weigerung geschert. Giuliettas Wachtmeister war schützend vorgetreten. Das Blut an der Türschwelle war seines.
»Wer hat angeordnet, den Keller abzuschließen?«
»Der Haushofmeister, nach der Abreise der Herrin.«
Im Morgengrauen war Graf Roderigo mit einem kleinen Trupp Berittener in den Hof geprescht. Er überbrachte einen Brief des Zehnerrats und hatte zwei zusätzliche Pferde für Giulietta und Eleanor dabei. Die anderen in ihrem Gefolge mussten selbst sehen, wie sie nach Venedig zurückkamen, die Galeere im Hafen würde nicht auf sie warten.
»Wer ist noch im Haus?«
Der Haushofmeister offenbar nicht, der Kutscher war in der Schenke, der Koch betrank sich in der Küche und seine Mutter … Federico starrte Tycho an.
»Niemand wird ihr ein Haar krümmen.«
Seine Mutter kümmerte sich um den Wachtmeister und hatte den Kutscher darum gebeten, den Verwundeten in ihre Kammer
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