Nachtklinge: Roman (German Edition)
uns gejagt hat. Damals hat er mir einen Bären aus Holz geschnitzt.«
Tycho hörte aufmerksam zu. Weder Pausen noch das gelegentliche Zögern entgingen ihm. Über besonders unangenehme Erinnerungen sprudelte sie hastig hinweg. Kein Junge hatte je ihre Aufmerksamkeit erregt. Gräfin Eleanor war, was einer Freundin noch am nächsten kam, bis …
sie Leopold kennengelernt hatte.
Diesen Satz beendet Tycho stillschweigend selbst.
Er sagte nicht:
Ich kann dir ein Freund sein,
denn er wusste nicht, ob das zutraf. Jedenfalls nicht so, wie Eleanor und Leopold Giuliettas Freunde waren. Er würde immer mehr wollen. »Ist es ausgeschlossen, dass Leopold Leos Vater ist?«
»Das habe ich dir schon auf der
San Marco
gesagt. Ich habe nie … wir waren nicht einmal knapp davor. Hast du mir nicht geglaubt?«
Er zuckte verlegen die Achseln.
»Ich belüge dich nicht«, sagte Giulietta.
Die Mondsichel wanderte über den Himmel. Die Sterne wurden blass und spürten, dass der Tag sie bald verscheuchen würde. Giulietta erzählte weiter, ohne ins Stocken zu geraten, nur einmal versagte ihr die Stimme. Sie brachte es einfach nicht fertig, über die Stunden unmittelbar vor ihrer Entführung zu sprechen.
»Damals ist es passiert?«
Sie nickte.
Tycho hatte sich also getäuscht, und Leos Zeugung hatte weder mit der Entführung noch mit den anschließenden Ereignissen zu tun. Giulietta war bereits vor ihrer Entführung aus der Basilika schwanger gewesen.
An manchen Tagen hasste Rosalie die Millioni-Prinzessin und ihr Balg.
Eleanors erste Jahre in Venedig waren unglücklich gewesen. Sie diente Giulietta als Zofe so gut sie nur konnte, aber ihre Cousine nahm kaum Notiz von ihr. Eleanor liebte und verehrte die etwas ältere Giulietta, aber manchmal … mochte sie sie nicht besonders. Nicht, dass Eleanor es ausgesprochen hätte. Rosalie las es aus der Stille zwischen den Wörtern.
»Es dämmert schon«, sagte Rosalie. »Ich muss bald gehen.«
»Bleib doch noch ein bisschen.«
»Das geht nicht.«
»Erzähl mir, wie es bei dir zu Hause war.«
Gräfin Eleanor lauschte gern Rosalies Geschichten über ihre Kindheit. Ihr Vater hatte an den Flanken der Hügel Holz geschlagen, die Mutter schlecht, aber unermüdlich gekocht. Ihr Bruder hatte Zimmermann werden wollen. Sie hatten in einer bescheidenen Holzhütte etwas außerhalb von Alta Mofacon gewohnt. Rosalie fragte sich, was geschah, wenn ihre Freundin herausbekam, dass diese Geschichten reine Erfindung waren. Sie erzählte sie trotzdem.
Rosalie gefielen die Geschichten nämlich auch.
»Morgen Abend.«
»Nein, jetzt sofort.«
»Psst«, sagte Rosalie.
»Warum denn?«
»Ich höre jemanden kommen.«
Das Mädchen neben ihr auf dem Bett lag ganz still. »Sie müssten aus Prinzessin Giuliettas Zimmer kommen.«
Rosalie nickte.
Eleanor lächelte verschmitzt und machte Anstalten, aufzustehen. Rosalie hielt sie fest. »Sei leise, sonst erwischen sie uns noch.«
Eleanor lauschte angestrengt. »Ich höre keine Schritte.«
»Das kannst du auch nicht«, sagte Rosalie und lächelte, um ihren Worten die Schärfe zu nehmen. »Aber ich weiß, wessen Schritte es sind.«
»Du erkennst jemanden an seinen Schritten?«
»Diese Schritte kenne ich jedenfalls.«
Sie erhob sich und umarmte Eleanor zum Abschied. Die Mädchen tauschten ein verschwörerisches Grinsen, dann folgte Rosalie Tycho die Treppe hinunter. Bald dämmerte der Morgen, noch war es dunkel.
Ihre Schritte verschmolzen mit seinen, darauf war sie stolz.
Er brachte ihr alles bei, was Graf Atilo ihn gelehrt hatte. Erstaunlicherweise schien er sie diesmal nicht zu hören, aber noch erstaunlicher war, dass er überhaupt die Treppe benutzte. Etwas musste sich verändert haben, sonst wäre er nicht so ungeniert aus Giuliettas Schlafzimmer spaziert.
Und etwas hatte sich auch für sie verändert. Während sie ihm folgte, stellte Rosalie fest, dass sie beinahe zum Weinen glücklich war.
45
T ycho erwachte in der Abenddämmerung aus traumlosem Schlaf. Das Backsteingewölbe barg einen leeren und einen gut gefüllten Weinkeller, einen großen Vorratsraum für Fleisch und zwei Kammern, in denen Getreide eingelagert wurde. In dem leeren Weinkeller befand sich ein niedriger, mit einem alten Mühlstein abgedeckter Brunnen.
Der Keller war genauso aufgeteilt wie das Geschoss darüber. In das breite Mauerwerk waren Schießscharten für die Bogenschützen eingelassen, und der Keller bot ausreichend Vorräte, um eine Belagerung zu überstehen.
Aber
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