Nachtklinge: Roman (German Edition)
mit dem Dolch zustieß. Die Klinge durchbohrte den Brustpanzer aus Büffelhorn und glitt durch gekochtes Leder, als sei es Papier. Das Gesicht des Wachtmeisters verzerrte sich vor Schmerz.
Dann fiel sein Schwert zu Boden. Tycho berührte vorsichtig das blutige Rinnsal an den Lippen des Wachtmeisters.
»Was bist du wirklich?«, röchelte Temujin.
»Ein Gefallener.«
»Was bedeutet das?«
»Lass mich prüfen, ob du es weißt.« Tycho hob den Finger an den Mund und hoffte, in den Bruchstücken dieses zu Ende gehenden Lebens eine Antwort zu finden. Doch es gab nur weniges in Temujins Leben, was Tycho nicht wusste. Sogar die Geschichte des Dämons, der Tycho ähneln sollte und angeblich den Khan getötet hatte, war nur Geschwätz, das er als Kind aufgeschnappt hatte.
»Ihr steckt also hinter dem Anschlag in San Lazzaro.«
»Natürlich«, keuchte Temujin mühsam. »Ich sollte das Mädchen und ihr Balg in die Luft jagen. Alonzos Befehl. Irgendetwas ist mit diesem Kind.« Er brachte ein säuerliches Lächeln zustande. »Ein Dämon wie du weiß das wahrscheinlich besser als ich. Aber nun muss ich gehen. Ich habe noch ein Hühnchen mit meinem Vater zu rupfen. Bring es zu Ende.«
Tycho erfüllte ihm den Wunsch.
Bereits die erste unverschlossene Tür führte in einen Hinterhof und eine weitere in ein Zimmer, wo eine halbnackte Kinderschar der
schiavoni
auf schmutzigen Matratzen schlief. Tycho verließ den Raum auf leisen Sohlen und unter den Blicken einer Frau, die klug genug war, angesichts der blutbespritzten Kleidung des Eindringlings den Mund zu halten.
Das Treppenhaus war heruntergekommen, das Schloss an der Eingangstür beschädigt. Die Gasse, in die er einbog, war so eng, dass er sich nur seitwärts hindurchzwängen konnte. Jemand musste einen Speicher erweitert und den Weg verengt haben.
Trotz der frühen Stunde herrschte am Fleischmarkt bereits geschäftiges Treiben. Hier erregte sein blutiges Wams weniger Aufsehen. Zwischen dem Markt und der aufgehenden Sonne erhob sich ein Kirchturm. Die Buden waren mit Planen aus Leinwand bedeckt.
Für alle gewöhnlichen Menschen war es noch dunkel, doch Tycho kämpfte bereits mit den ersten Lichtstrahlen.
Er stahl eine blutige Lederschürze von einem Karren und ging weiter, in der einen Hand ein Messer. Auch das fiel hier nicht auf, denn die Hälfte der Menschen ringsum hielte ein Messer oder ein Hackbeil in der Hand.
Die Kirchentür war nicht verschlossen, innen herrschte wohltuendes Dunkel. Zwei alte Frauen knieten vor dem Geländer am Altar, dahinter murmelte ein junger Mann im grauen Priesterrock Gebete. Er hielt den Blick auf etwas für Tycho Unsichtbares geheftet.
Langsam stieg er die Treppe zum Kirchturm hinauf.
Er suchte nicht zum ersten Mal Schutz in einer Kirche und wusste, dass sich weiter oben eine fensterlose Kammer befand. Das Gerümpel darin war zu schäbig, um noch verwendet zu werden, aber auch zu ehrwürdig, um es wegzuwerfen. Die Tür, falls sie überhaupt versperrt war, ließ sich meist mühelos aufbrechen. Jedenfalls würde er sie von innen verriegeln und im Turmzimmer auf die Nacht warten. Nur hielt er sich diesmal nicht nur vor dem Tageslicht, sondern auch vor dem Gesetz versteckt. Wenn er erwachte, würde man bereits einen Preis auf seinen Kopf ausgesetzt haben.
Als es dunkel wurde, hörte er leisen Chorgesang und das Klappern der Budenbesitzer, die ihre Waren zusammenpackten. Tycho empfand diese Geräusche als tröstlich. Sie sagten ihm, dass er seinen Unterschlupf bald verlassen konnte. Die Kammer hatte eine hohe Decke und lag unmittelbar unter dem Glockenstuhl. Es gab nur einen Zugang durch eine niedrige Tür an der Wendeltreppe.
Er stieg die Treppe hinauf, da in der Kirche noch eine Messe gelesen wurde. Vom Turm aus überblickte er ganz Venedig. Im Nordwesten lag das Arsenal, wo Öllampen die von Seilen begrenzten Wege beleuchteten. In der entgegengesetzten Richtung, etwa fünf Minuten von seinem Standpunkt entfernt, befand sich das mächtige
fontego dei tedeschi,
die Handelsniederlassung der Deutschen. Die ausländischen Händler lebten hier nach ihren eigenen Traditionen und Gesetzen.
Vor ihm erstreckte sich die Lagune und dahinter das Festland, hinter ihm lag die Riva degli Schiavoni, wo Waren umgeschlagen und Mannschaften angeheuert wurden. Zahlreiche Bordelle und Wirtshäuser sorgten für das leibliche Wohl der Seeleute, die einen Tag Landgang hatten.
Wachtmeister Temujin hatte ihm eine Frage gestellt, die eine Antwort
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