Nachtklinge: Roman (German Edition)
Tycho prüfend an den Seilen zerrte, mit denen er gefesselt war.
Sie saßen ziemlich fest.
Glücklicherweise war der Hanf jedoch feucht, Tychos Handgelenke schmal, und der Wachposten hatte den Knoten in aller Eile geknüpft. Das war günstig, ebenso wie die frühmorgendliche Schar, die plötzlich am Landungssteg auftauchte, um Temujins Männern salzige Kuchen und gegrillten Fisch anzubieten.
»Wachtmeister, wollen wir nicht …«
»Nein«, sagte Temujin. »Dafür ist jetzt keine Zeit.«
Sie gingen durch eine Gasse. Ohne Fesseln hätte Tycho mit ausgestreckten Armen die Häuserwände berühren können. Zur Beruhigung zählte er seine Schritte und zerrte heimlich an den Fesseln.
Nach etwa hundert Schritten bog die Gasse plötzlich nach rechts, verlief fünfzig Schritte geradeaus und mündete in einen engen Hof mit vermauerten Fenstern. Schon tagsüber war es hier düster, und im Moment herrschte pechschwarze Finsternis.
Furcht stieg in Tycho auf, als er seine Sinne öffnete.
Bittere Verzweiflung bedeckte die Steine unter seinen Füßen wie Schleim, Schmerz wucherte wie Schimmel auf den dicken Backsteinwänden. In dieser Stadt der Geister hatte er sich daran gewöhnt, dass ihn unsichtbare Augen beobachteten. Doch diesen Ort, das spürte er, mieden sogar Geister.
Natürlich hatte er Angst, denn er war nicht zum ersten Mal hier. Nur hatte man ihm diesmal nicht die Augen verbunden. Er zerrte an seinen Fesseln und kämpfte gegen seine Furcht an.
Einmal am Tag drang die Flut in das Verlies der Schwarzkreuzler ein. Der Wasserspiegel stieg, bis nur noch eine kleine Insel in der Mitte herausragte, auf der sich die stärksten Gefangenen zusammendrängten. Andere krochen durch die faulig riechende Brühe, und alte und schwache Gefangene, die sich nicht aufrechthalten konnten, ertranken. Das Verlies war eine Hölle, mit Wasser statt mit Feuer.
Glück und Rücksichtslosigkeit hatten ihm damals das Leben gerettet. Aber ein zweites Mal?
Ich weiß nicht einmal, ob ich noch derselbe bin.
»Lasst mich mit der Dogaressa sprechen.«
Temujin befahl ihm knurrend, den Mund zu halten. Er trat an die schwere, schwarz lackierte Eingangstür und hob die Hand, um anzuklopfen.
Du musst ihn aufhalten,
dachte Tycho verzweifelt.
Er drehte verzweifelt die Handgelenke hin und her ,und das Hanfseil durchschnitt seine Haut bis auf die Knochen. Er krümmte sich vor Schmerz und stürzte. Dann wurde es schwarz um ihn, und in seinem Kopf schien eine Welt zu bersten. Kurz darauf trat ihm jemand in den Magen.
»Los, stellt den Kerl auf die Beine.«
Hände packten ihn, zogen ihn auf die Füße.
Jetzt!
Die Zeit stand still, als sich seine Hände aus den blutigen Fesseln lösten.
Er riss den Dolch aus dem Gürtel eines Wachmanns und ließ den Knauf auf die Schläfe seines Bewachers niedergehen. Der zweite Mann riss vor Schreck die Augen auf, als sich Tycho um die eigene Achse drehte und seinen ausgestreckten Finger in die Leber des Mannes rammte. Auch um die beiden anderen war es im Nu geschehen.
»
Erschießt ihn!«
Tycho fing den Pfeil auf und schleuderte ihn so wuchtig zurück, dass er das Handgelenk des Schützen durchdrang. Er packte die Armbrust und drosch damit auf einen Wachmann ein, während der verwundete Schütze die Flucht ergriff. Tycho ließ ihn laufen, damit ihn das Blut nicht in Versuchung führte.
Der Kampf war in wenigen Augenblicken beendet.
»Ich wusste, dass du mir den Tod bringst«, sagte Temujin.
Tycho blickte in die dunklen Augen des Halbmongolen, bemerkte das schiefe, tapfere Lächeln angesichts einer bevorstehenden Niederlage. Der Schädel unter seiner Lederhaut schien zu grinsen und Tycho anzustarren.
»Ich werde Graf Roderigo berichten, dass Ihr tapfer gestorben seid.«
Die Mundwinkel des Wachtmeisters zuckten.
Temujin zückte sein Schwert. Es war alt und trug die Spuren vieler Kämpfe. Am Griff waren mongolische Schriftzeichen eingekerbt.
»Ist das das Schwert Eures Vaters?«
»Er ließ es bei meiner Mutter, als Beweis für seine Rückkehr. Er hat gelogen.« Temujin hob grinsend die Waffe. »Dafür werde ich ihn zur Rede stellen, wenn ich ihn treffe.«
Sein Eröffnungsschlag hätte einen Ochsen zu Boden gestreckt.
Schieres Glück, Furcht und Blutgier verliehen Tycho die nötige Schnelligkeit, um auszuweichen und dabei den Finger in die Blutlache des geflohenen Armbrustschützen zu tauchen. Temujins zweiter Hieb war langsamer.
Sein dritter erfolgte so gemächlich, dass Tycho genau zielen konnte, ehe er
Weitere Kostenlose Bücher