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Nachtleben

Nachtleben

Titel: Nachtleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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mich nicht genug um die Kleine kümmere, weil meine Mutter sie nervt«, er unterbrach sich und schenkte einen weiteren Grappa nach. »Da kannste machen, was du willst.« Wir tranken. Flavio sah sich um, lehnte sich zu mir herüber und flüsterte: »Letzte Woche habe ich so ’ne Neunzehnjährige gevögelt, die seit einem Monat Pizza für mich fährt.« Er boxte mir den Ellenbogen in die Seite und verzog tonlos das Gesicht zu einer lachenden Fratze. »Diese jungen Dinger machen echt alles im Bett. Alles, Alter! Dem Internet sei Dank.«
    »Wie lange bist du mit Paula verheiratet?«
    »Ich hab die Finger gekreuzt, als die Sache mit
treu bis ins Grab
kam.«
    »Hast du?«
    »Innerlich.«
    Ich lachte und spürte, wie der Schnaps und der Wein in mir arbeiteten.
    »Und bei dir? Alles irgendwie schon okay?«, fragte Flavio |308| schnippisch. »Wir müssen mal wieder zusammen losziehen, oder bist du am Wochenende nicht mehr unterwegs?«
    »Doch. Schon. Alles wie gehabt. Irgendwie.«
    »Immer noch Tonia?«
    »Ab und zu auch Tonia.«
    »Ey, Rick, du brauchst mal eine richtige Beziehung. Das kannste doch nicht ewig so durchziehen.«
    Nonna wackelte an uns vorbei und gab mir den Zigarillo zurück. Am Kopfende des Tisches saß Giulia mit einem Gläschen Amaretto und tippte eine SMS, während die Kinder sich um den Fernseher versammelt hatten und ein Autorennspiel auf einer Spielkonsole daddelten. Ich musste an die neunzehnjährige Pizzafahrerin denken.
    »Ich bleib lieber bei meinen Affären«, sagte ich. »Ab und zu mal zusammen kochen und auf Konzerte gehen. Kein Unterschied zu einer Beziehung. Nur ohne den Trennungsstress.« Flavio schwieg. »Was passiert denn, wenn Paula das mit der Neunzehnjährigen rausbekommt?«, fragte ich.
    »Hatse wohl mal wieder schlechte Laune«, sagte er. »Soll ich uns ein Bier holen?«
    »Und wenn sie sich scheiden lässt?«, fragte ich. »Und du für die Kleine blechen musst? Und alles, was da mit dranhängt? Hast du da keinen Schiss vor?«
    »Pfff«, machte Flavio und lehnte sich mit einer ausladenden Handbewegung zurück, mit der er mir seine Familie präsentierte. »Was soll mir denn passieren, Alter?«
    Ich nickte.

|309| Juni 1980
    Durch den Perlenvorhang beobachtete ich, wie Mutter mit einer dampfenden Tasse Kaffee in der Hand am geöffneten Küchenfenster stand und vor sich hinsummte. Ganz ruhig und fast wie im Halbschlaf. Für einen Moment schien es, als sei nicht sie es, die summte, sondern als flimmere die Melodie losgelöst von ihr in der morgendlichen Luft. Als Mutter mich bemerkte, lächelte sie. In meiner kurzen Hose schlurfte ich neben sie, stützte mich mit den Ellenbogen aufs Fensterbrett und sah runter auf die Straße, die sich allmählich mit Leben füllte. Der dicke Kurt räumte einen Zeitungsständer vor seinen Kiosk, streckte die Plauze raus und kratzte sich, eine Zigarre schmauchend, am Hintern. Gegenüber ordnete der Grieche sein Gemüse. Neben dem Baum vor unserer Haustür schraubten ein paar Jungs mit ölverschmierten Händen an ihren Mofas herum und quatschten sich ständig gegenseitig rein, wie man es richtig machte. Mutter streichelte meinen Nacken, und ihre Fingerspitzen waren warm von der Tasse.
    »Wo fahren wir heute hin?«, fragte ich und drückte meinen Kopf gegen ihre Finger.
    »Geheimnis«, antwortete sie. In dem Moment kam Ingrid in einem rot-weiß gepunkteten Sommerkleid in die Küche, blieb im Türrahmen stehen und knabberte an ihrer Unterlippe.
    »Ach, das hast du ihr angezogen?«, fragte Mutter. »Das sieht ja niedlich aus. Soll ich dir Zöpfe machen, Kleine?«
    Ingrid nickte und kam in ihren Sandalen ungelenk auf uns zugehüpft.
    Nachdem Mutter sich an den Küchentisch gesetzt hatte, |310| packte sie Ingrid am Hintern, zog sie zärtlich zu sich heran und gab ihr einen Schmatzer auf die Stirn. Ingrid lachte und knutschte Mutter auf den Mund. Ich linste in den Rucksack, der auf dem Tisch lag. Darin entdeckte ich eine Papiertüte vom Bäcker, drei Dosen Brause und einen Fotoapparat. Als ich Leberwurst roch, bekam ich Hunger.
    »Noch nicht an die Brötchen gehen«, sagte Mutter. »Die essen wir später. Wenn du schon Hunger hast, kannst du einen Apfel haben.«
    Auf der Spüle lagen zwei Äpfel, übersät mit braunen Flecken wie Sommersprossen. Dort lagen sie seit knapp einer Woche und waren schon am ersten Tag weich und angeschrumpelt gewesen.
    »Hast du die Wäsche aus dem Keller geholt, Richard?« Ich schüttelte den Kopf. Einige Tage zuvor hatte ich im Keller

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