Nachtleben
hinterher. Eine Reisetasche wurde in die Wohnung geschoben, und die Kinder sprangen zur Seite. Paula trat ein und gab Flavios Mutter einen flüchtigen Kuss auf die Wange, bevor sie die Treppe rauf in den ersten Stock verschwand. Schließlich kam Flavio hinterher. Vor seine Brust geschnürt trug er seine Tochter Franziska, die von seiner Mutter sofort ein Küsschen aufgedrückt bekam. Flavio nickte nur müde und ohne mich zu bemerken, bevor er Paula folgte.
Eine halbe Stunde später servierten wir das Essen.
Als ich das Tablett mit den dampfenden Suppenschüsseln ins Wohnzimmer balancierte und die Familie sich unter dem Quietschen und Klappern der Stühle ihre Plätze am Tisch suchte, sah Flavio mich überrascht an.
»Hallo«, sagte er. »Wusste gar nicht, dass du kommst.«
»Na, wo soll er denn sonst sein?«, rief seine Mutter.
Paula warf mir einen knappen Blick zu und zog sich ihr Kostümchen zurecht.
»Cool«, sagte Flavio und schaute zu Paula, die seinen Blick nicht erwiderte, sah dann wieder zu mir und deutete mit den Lippen ein
Später
an.
Das Essen zog sich über den ganzen Abend hin. Eine Flasche Wein nach der anderen wurde entkorkt, und zwischendurch wurden kleinere Geschenke verteilt, nur um anschließend genauso maßlos weiterzuessen. Flavios Vater hatte wieder sein Mokka-Karamell-Eis vorbereitet, nach dem ich mir jedes Jahr die Finger leckte, und zum Abschluss, bevor kurz vor Mitternacht die Schnäpse auf den Tisch kamen, gab es Panettone und Espresso. Ich steckte mir den Zigarillo an und gab Flavio Feuer.
»Boah«, stöhnte er nach dem zweiten Zug. »Das Nikotin macht mich total platt.«
|306| Ich zog die Augenbrauen hoch. »Ich rauche seit ein paar Monaten nicht mehr«, erklärte er.
»Ernsthaft?«
Flavio nickte und nahm einen Schluck Espresso. Paula, die den ganzen Abend nahezu stumm auf ihrem Platz gehockt hatte, erhob sich und verließ den Raum.
Flavio sah ihr hinterher. »Ist schon hart«, sagte er, ohne dass ich etwas gefragt hatte. Fast verschwand seine Stimme im allgemeinen Trubel, der im Wohnzimmer herrschte. Etwas leiser fügte er hinzu: »Ist anders.«
Um sein rechtes Handgelenk trug er ein Lederarmband, unter dem die Herzchen-Tätowierung nicht zu erkennen war.
»Ist’s gut?«, fragte ich, aber Flavio zögerte.
»Anders«, wiederholte er. »Die Kleine ist toll. Wenn die mich anguckt«, er machte eine Pause und schaute sich um, »da sehe ich meine ganze Familie drin. Vor allem Nonna, wenn sie lacht. Das ist toll. Das ist echt toll. Die Kleine ist so schlau. Die guckt mich an, und ich fühle mich irgendwie so blöd. Die ist echt schlauer als ich, obwohl sie noch nicht ein Wort rausgebracht hat. Irgendwie weiß die mehr als wir.« Er starrte in seine Espresso-Tasse, als würde er im Kaffeesatz lesen. Dann setzte er sich auf und knallte sie auf den Tisch. »Ey, Rick! Wenn die Kleine in fünfzehn Jahren den ersten Kerl mit nach Hause bringt, kricht der zur Begrüßung erst mal dermaßen die Fresse poliert, da machste dir kein Bild von.«
Wir lachten. Ich langte über den Tisch und holte uns zwei Gläser und eine Flasche Grappa. Die Tischdecke war voller Wein- und Soßenflecken. Flavio pulte ein Stück Tomate ab und steckte es sich in den Mund.
»Wenn die so einen wie uns anschleppt, flippe ich aus«, sagte er. »Keine Drogen, keine Tätowierungen und einen anständigen Job muss der haben. Sonst kann der gleich wieder einpacken.«
Einen Moment saßen wir still nebeneinander und starrten in den Grappa. Schließlich ließ Flavio sich schlaff zusammensinken, |307| streckte den Bauch raus und stellte das Glas auf seiner Plauze ab. Er sah mich an.
»Nächstes Jahr dann das Bierfass«, sagte ich. Als Flavio loslachte, kippte der Grappa um und kleckerte über seine Hose auf den Boden.
»Warum mag mich Paula eigentlich nicht?«, hörte ich mich fragen.
Flavio verzog das Gesicht und hob ächzend das Glas auf. »Na ja, sie denkt halt«, sagte er und schenkte sich Grappa ein, »dass du irgendwie kein guter Einfluss für mich bist.«
Ich nickte. »Hat sie heute schlechte Laune, oder was ist los?«, wollte ich wissen, aber Flavio winkte ab, stieß sein Glas gegen meines und sagte: »Die hat immer schlechte Laune«, bevor er den Grappa runterkippte. Nonna huschte an uns vorbei und klaute mir lachend den Zigarillo. »Mal hatse schlechte Laune, weil sie zu fett geworden ist, dann, weil ich zu viel arbeite, dann, weil sie nicht genug rauskommt, weil ich ihr nicht genug verdiene, weil ich
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