Nachtleben
die Finger.
Auf dem Weg zur Terrasse musste ich durchs Wohnzimmer, wo ein Esstisch mit etwa dreißig Plätzen gedeckt war. Als ich auf die Terrasse kam, bot sich mir das erwartete Bild. Giulia trippelte fröstelnd auf der Stelle, während Nonna an ihrer Kippe zog und lächelte.
»Alles beim Alten?«, fragte ich, und Giulia streckte ihre Hand nach der Zigarette aus, aber Nonna nahm noch einen Zug, bevor sie sie zurückgab. Anschließend langte sie hinter einen in der Ecke der Terrasse zusammengefalteten Klapptisch und zauberte eine Flasche Grappa samt Glas hervor. Ich steckte mir eine Zigarette an.
»Appetitoso«, flüsterte Nonna, und fast verschwanden ihre Augen hinter ihren Wangen. Erst schenkte sie sich ein Glas ein, das sie mit einem Schluck hinunterstürzte, und dann mir. Ich prostete ihr zu und trank. Als Giulia mir das Glas abnehmen wollte, um sich einen Schluck zu genehmigen, klopfte Nonna ihr auf die Finger.
|303| »Ich bin neunzehn«, protestierte Giulia, aber Nonna ignorierte sie und versteckte Flasche und Glas wieder hinter dem Tisch.
»Oh, ich hasse meine Familie«, zischte Giulia und drehte sich weg. Nonna verschwand im Haus.
»Weihnachten nervt so dermaßen«, sagte Giulia.
»Ich finde deine Familie toll.«
»Das ist immer so mit den Familien von anderen Leuten. Die Familie von meinem Freund finde ich auch toll.«
»Du hast einen Freund?«, fragte ich.
Giulia sah sich um und sagte leiser: »Marokkaner. Erzähl das bloß keinem. Vor allem nicht Flavio, der dreht durch.«
»Seit wann läuft das schon?«
»Fast ein Jahr.«
»Und das hat noch keiner mitbekommen?«
»Nee«, sagte sie, »oder hat Flavio schon mal irgendwas gesagt?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Wir sehen uns in letzter Zeit aber auch nicht mehr so oft. Schreiben uns ab und zu mal Mails. Das war’s aber auch«, antwortete ich, nahm einen Zug und schaute beiseite.
»Der hat auch immer viel zu tun mit dem Bringdienst und allem«, sagte Giulia. »Ist immer total gestresst, sagt mein Papa.«
»Ich hatte ja eigentlich damit gerechnet«, sagte ich, »dass das so ein Job ist, bei dem sein Name nur auf dem Papier auftaucht und er halt die Kohle abgreift.«
Giulia konnte sich ein hämisches Grinsen nicht verkneifen. »Dachte er auch«, sagte sie, »da hatten sein Vater und die Brüder aber keine Lust zu. Der muss richtig Buchhaltung machen. Die helfen ihm zwar ein bisschen, aber du kennst ihn ja. Das ist nicht so seine Welt.« Sie lugte ins Wohnzimmer. »Ich will jetzt auch einen Grappa.« Damit trat sie die Kippe aus, hockte sich neben den Tisch und schenkte sich ein Glas ein.
|304| »Und was machst du sonst so?«, fragte sie.
»Jobbe halt in diesem Hotel.«
»Immer noch? Ich dachte, das war nur vorübergehend. Das hast du doch letztes Jahr schon gemacht.«
»Die zahlen ganz gut.«
Giulia trank den Grappa und verzog das Gesicht, hustete und fragte: »Und was macht die Liebe?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Liebe ist schon okay«, nuschelte ich.
»Rico!«, rief Nonna aus der Küche.
»Sì, Signora!«
Kurz darauf stand ich in einer himmelblauen Schürze mit Rüschchen am Tisch und bastelte Käsespieße. Ab und an tobten die Kinder durch die Küche, und Giulia sah ihnen jedes Mal lange hinterher, wenn sie verschwanden, während sie eine SMS nach der anderen tippte.
Ab kurz vor sechs trudelte die Familie ein, Flavios Brüder mit Anhang, weitere Tanten mit ihren Männern, seine Nichten und Neffen, Tommaso und die anderen Cousins und Cousinen.
Schließlich kam Flavios Vater, der mich jedes Jahr begrüßte wie einen im Krieg vermissten Kameraden, mit dessen Heimkehr er nicht mehr gerechnet hatte. Als er mich bemerkte, blieb er stehen, erstarrte, breitete dann die Arme aus und klopfte mir beim Umarmen auf den Rücken. Anschließend drückte er mir und den anderen Männern einen Zigarillo in die Hand, den wir bis nach dem Essen aufheben mussten, um ihn zum Espresso zu rauchen.
Die Küche füllte sich. Es wurde in die Töpfe und den Ofen geguckt, genascht und im Weg gestanden, bis Nonna zu schimpfen anfing und einen nach dem anderen hinausschob. Sie verschwanden ins Wohnzimmer. Ich half weiter bei den Vorbereitungen und genoss es, bei den Frauen zu sein.
Als es wenig später erneut klingelte, zog sich ein Lächeln |305| über das Gesicht von Flavios Mutter, und sie ging zur Tür, wo sich schon die Kinder drängelten und stritten, wer von ihnen öffnen durfte. Mir die Hände in der Schürze abwischend, sah ich ihr
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